: Fanpost für Julietta
LIEBENDE Shakespeares „Romeo und Julia“ haben das norditalienische Verona zum Wallfahrtsort gemacht
■ Anfahrt: DB und ÖBB fahren täglich fünfmal in fünfeinhalb Stunden von München nach Verona; vgl. www.bahn.de
■ Übernachten: Hotel Italia, Via Mameli 58-66, 37126 Verona, DZ 120 Euro p. P., Tel. (00 39) 04 59 1 80 88, www.hotelitaliaverona.it Oder B & b Il Castello via Laste 3, 37126 Verona, DZ 60–100 Euro, Tel.: (00 39) 3 28 4 02 99 88, www.bb.dormire.com
■ Tourismusauskunft: Piazza Bra 1, Tel.: (00 39) 0 45 8 07 77 74, www.comuneverona.it
■ Club di Giulietta: Er befindet sich in der Via Galilei 3, Tel.: (00 39) 0 45 53 31 15, www.julietclub.com. Der Club schreibt einen Literaturpreis aus über das Thema Liebe und bietet Beratungen zu wichtigen Fragen: „wie eine verlorene Liebe zurückgewinnen“ oder „eine verwandte Seele finden“.
■ Touristenattraktion: In der Via Cappello 27 steht das angebliche Elternhaus der Julia. Der Bau wurde lange Zeit als Fremdenherberge genutzt Der berühmte Balkon im Innenhof wurde nachträglich für Touristen angebaut. 285 Meter Fußstrecke entfernt befindet sich in der Via Arche Scaligere das Haus der Montagues.
VON HELMUT LUTHER
Sally hat ein großes, reines Herz, so leicht lässt sich die junge Frau aus Perth in Westaustralien nicht unterkriegen. Wie ihr Vorbild Julia hat Sally immer an die wahre Liebe geglaubt. Doch bisher konnte sie den Einzigen nicht finden, den Mann, mit dem sie Freud und Leid teilen möchte, ein ganzes Leben lang. So ist Sally mit einer unbestimmten Hoffnung nach Italien gereist, hat in Verona, der Stadt von Shakespeares Heldin, ein Jahr studiert. Aber weil Sally wieder bitter enttäuscht wurde, verfasste sie schließlich einen langen Brief. Per Hand schrieb sie mehrere Papierseiten voll, und zwar an ihre Schutzpatronin, die Vertraute aller, die sich nach Liebe sehnen. Sie würde ihr Mut machen und Sally endlich das Gefühl geben, mit ihrem Kummer nicht allein zu sein. Auf den Umschlag setzte die junge Australierin ein einziges Wort: „Julietta“
Die Post kam an im Club di Giulietta in der Via Galilei 3 in Verona. „Wir erhalten viele solcher Briefe. Jährlich etwa 10.000“, sagt Giovanni Tamassia, während er nach einem eng mit blauer Tinte bekritzelten Blatt greift. Der 80-Jährige, randlose Brille, über dem dunklen Hemd eine gelbe Krawatte, sitzt an diesem Morgen im Clubbüro. Mit über den Tisch verstreuten Briefen, mittendrin eine leere Campari-Flasche, stapelweise Zeitschriften, Bücher und vergilbte Fotos, wirkt das Arbeitszimmer im Erdgeschoss eines 1960er-Jahre-Klinkerbaus ziemlich unordentlich. Aber die Aufräumarbeit kann warten, Emotionen gehen vor, findet Tamassia. Er selbst ist ja an mancher Gefühlsverwirrung direkt beteiligt.
Im 19. Jahrhundert hatte alles angefangen. Romantische Dichter wie Lord Byron und Heinrich Heine pilgerten ins Kloster San Francesco al Corso, wo ihnen Nonnen Julias vermeintliches Grab zeigten, einen längst leeren Sarkophag aus rotem Marmor. Und schon im 19. Jahrhundert hinterließen dort Menschen Nachrichten und Bittschreiben. Als 1936 der Hollywood-Regisseur George Cukor Shakespeares bittersüßes Drama verfilmte, wurde Verona endgültig zum Wallfahrtsort für Liebende.
Antonio Avena, der damalige Museumsdirektor der Stadt, erkannte die Notwendigkeit, der Geschichte durch kluge Inszenierung mehr Authentizität zu verleihen. So verpasste er dem mittelalterlichen Haus in der Via Capello, der Legende nach Julias Wohnhaus, ein gotisches Portal und ein Rosettenfenster. In die Fassade ließ Avena einen aus dem Museum geholten antiken Steinsarkophag einbauen. Den mitgelieferten Hinweis auf die dunkle Kehrseite des Amour fou muss man dabei wohl der Macht des Unbewussten zuschreiben.
Einen kongenialen Werbepartner fand Avena in Ettore Solimani, dem Verwalter von Julias Grab, das inzwischen in die Krypta verlegt worden war. Solimani, der wusste, was Touristen suchen, schuf eine stimmungsvolle Atmosphäre mit Tauben und rankenden Rosenbüschen. Dafür kassierte der Verwalter Eintrittsgeld, denn immer mehr Paare schworen sich an der mutmaßlich letzten Ruhestätte von Shakespeares Heldin ewige Treue. Und noch einen Einfall hatte der geschäftstüchtige Verwalter: Als „Julias Sekretär“ begann er, Briefe zu beantworten, die Liebende an ihre Schutzpatronin schrieben.
Heute setzt Giovanni Tamassia dieses Werk fort, gemeinsam mit einem Dutzend Freiwilligen, die alle Mitglied im 1975 gegründeten Club di Giulietta sind. Der Beitrag der Stadt reiche gerade mal für das Porto, brummt Tamassia, zum Glück gehöre ihm selbst das Büro in der Via Galilei. Warum er das mache? „Ganz einfach“, erklärt der 80-Jährige mit einem breiten Grinsen, „die Liebe hält jung.“
An diesem Vormittag unterstützt ihn Giovanni Carrabetta bei der Auswertung der Fanpost. „Früher wurden wir belächelt, heute sind uns die Touristiker dankbar.“ Der drahtige Mittfünfziger zeigt auf den frisch gewachsenen Briefberg, der Veronas Mythos nährt: Bei den Absendern handle es sich um Menschen jeder Altersstufe, junge Frauen stellen eine klare Mehrheit, hin- und hergerissen zwischen den Stimmungsextremen: himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Oft gehe es um Probleme mit den Familien, weil die Zugehörigkeit zu einer anderen Religion oder Kultur nicht akzeptiert werde. Julia erscheine dann als Gleichgesinnte, deren Mut bewundert werde.
Um den Ratsuchenden individuell und möglichst treffend antworten zu können, haben sich die Clubmitglieder spezialisiert. Eine Freiwillige etwa studierte asiatische Sprachen – sie betreut die zahlreichen japanischen Briefeschreiberinnen, denen es schwerfalle, ihre tiefsten Gefühle zu offenbaren. Eine andere Julia-Sekretärin ist Psychologin. Sie empfiehlt, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn in einem Brief – was selten vorkomme – Selbsttötungsabsichten angedeutet werden.
Was Giovanni Carrabetta an der Aufgabe reize? „Ich bin, ohne reisen zu müssen, mit Menschen aus der ganzen Welt verbunden.“ Außerdem bekomme er mit, was passiert, bevor die Medien darüber berichten. „Durch die Briefe wussten wir von dem bevorstehenden Einsatz der US-Streitkräfte in Afghanistan: weil uns schwangere junge Frauen fragten, ob sie ihren Geliebten noch schnell vor der Abreise heiraten sollen.“
In fast 40 Dienstjahren hat Giovanni Tamassia etwas Wichtiges gelernt: „Es handelt sich um einen Virus, von dem wir alle gleichermaßen befallen werden.“ L’amore è l’amore: Die Liebe ist die Liebe. Besser könne man das Phänomen nicht erklären. Manchmal, gibt Giovanni Tamassia zu, sehne er sich nach etwas Abstand zu seiner Beichtvaterrolle. Dann spaziere er durch die Via Capello – und dort im Innenhof der Nummer 21, mit Blick auf das Gewusel vor Julias „Balkon“, bekomme er schnell wieder einen kühlen Kopf.