Gespräch mit einem toten Fremden

BUCHMESSE LEIPZIG I Dass der Preis der Leipziger Buchmesse an David Wagner geht, ist eine schöne Entscheidung – aber noch lange kein Grund, sich nachträglich über die übrigen nominierten Kandidaten herzumachen

Wagner beherrscht die Kunst der Auslassung. Manchmal genügen ihm Federstriche wie: „Mein Bettnachbar. Sein Schnarchen klingt beruhigend“

VON TIM CASPAR BOEHME

Wie war das noch einmal? In der Literatur geht es, einem gern zitierten Ausspruch nach, eigentlich bloß um zweierlei – Liebe und Tod. So gesehen hat der für seinen Roman „Leben“ (siehe literataz vom 13. 3.) mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrte Schriftsteller David Wagner mit seinem Buch das Plansoll locker erfüllt. Der Tod kommt dem Ich-Erzähler darin gleich zu Beginn sehr nah, und er wird im weiteren Verlauf nur durch den Tod eines Unbekannten weiterleben können. David Wagner hat die am eigenen Leib gemachte Grenzerfahrung einer Lebertransplantation als Material für eine Fiktion genommen, die den Unterschied zwischen Bericht und Erfindung unmerklich verschwimmen lässt. So wie im Grunde alle Erzähler über sich selbst schreiben, wenn sie Welten auf Papier schaffen, tut dies auch Wagner. Und er bildet nicht einfach Wirklichkeit ab, sondern arbeitet mit ihr: „Alles war genau so / und auch ganz anders“ heißt es in „Leben“ denn auch lapidar vorab.

Die lebensbedrohenden Krankheitssymptome, die den Eingriff und damit den organförmigen Eindringling im eigenen Körper irgendwann unausweichlich machen, schildert Wagner gleich zu Beginn und ohne Vorwarnung. Man freut sich, dass man selbst noch sorglos schlucken kann, wenn man einigermaßen heil durch das eröffnende Notfallprotokoll gelangt ist, in dem auf nur wenigen Seiten sehr viel Blut verloren wird. Was folgt, ist eine kunstvoll nüchterne, gelegentlich assoziative Poesie, in der Wachen und Träumen, Gegenwart und Erinnerung ineinanderzugreifen scheinen. An einer Stelle etwa werden seitenweise Todesmeldungen wiedergegeben, kurze Titel wie „Totenschiff“ oder „Familiengrab“ dienen der Verdichtung. Auch die anderen streng durchnummerierten Passagen sind knapp gehalten, oft wenige Sätze lang. Manchmal genügen tagebuchartige Fragmente wie: „Mein Bettnachbar. Sein Schnarchen klingt beruhigend.“ Mit solchen Federstrichen zeigt Wagner auf anrührende Weise, dass er „die Kunst der Aussparung“ beherrscht, so Jurymitglied Daniela Strigl in ihrer Laudatio.

In die Liebe zum Leben muss sich der Erzähler nach der Operation gleichwohl erst wieder langsam einüben. Optisch wird die Zäsur mit zwei grau bedruckten Seiten markiert – ein Kunstgriff, durch den das, wovon man nicht sprechen kann, symbolisch „geschwärzt“ ist. Mit dem eingepflanzten Fremdkörper stellt sich zunächst die Frage nach dem Fortbestand der eigenen Identität, der bald die Trauer um das unfreiwillige Opfer des Spenders folgt. Ein Gespräch mit dem fremden Toten beginnt, es wird sogar um Einzelheiten seines Endes auf dem Fahrrad spekuliert (Fuhr er ohne Helm? Hätte der bei der Kollision mit dem Laster etwas genützt?). Und am Ende steht der Beschluss: „Ich sollte anfangen mit diesem neuen Leben.“

Das neue Leben

Der Preis für „Leben“ ist eine schöne Entscheidung, über die man sich mit Wagner in jeder Hinsicht freuen kann. Ihm ist allerdings kaum geholfen, wenn man im Nachhinein versuchen wollte, die anderen Kandidaten als abwegige Mitstreiter kleinzureden. Man kann sich womöglich noch einmal wundern, dass mit Anna Weidenholzers „Der Winter tut den Fischen gut“ und Ralph Dohrmanns „Kronhardt“ zwei Titel aus dem Vorjahr nominiert waren, das sollte dann aber auch reichen. Und sicherlich war Lisa Kränzlers „Nachhinein“ der experimentellste Kandidat, Birk Meinhardts „Brüder und Schwestern“ dafür der konventionellste. Doch der bloße Umstand, dass sie es am Ende nicht geworden sind, disqualifiziert sie nicht.