Der Expressionismus war ihre Passion

SPÄTE WÜRDIGUNG Ohne sie wäre Hamburg ärmer: die fast vergessene Kunsthistorikerin und „Brücke“-Sammlerin Rosa Schapire in den Kunstsammlungen Chemnitz

Nach 1933 verschwanden die expressionistischen Werke im Depot oder wurden verkauft

VON WILFRIED WEINKE
UND ROBERT SCHRÖPFER

Schon vier Jahre nach ihrem Tod erschien 1958 in Deutschland die erste gedruckte Erinnerung an die nach England geflohene Kunsthistorikerin Rosa Schapire. „Maler der Brücke. Farbige Kartengrüße an Rosa Schapire“ lautete der Titel des von Gerd Wietek herausgegebenen Insel-Buchs. Auf 19 Tafeln präsentierte dieser liebevoll gestaltete Band Kartengrüße von Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff, allesamt Vertreter des Expressionismus, Mitglieder der 1905 gegründeten Künstlergruppe „Brücke“.

Gewiss waren diese Künstlerpostkarten ein Medium der Verständigung. Durch ihre Farbigkeit sowie durch die Konzentration von Farbe und Form aber stellen sie Kunstwerke im kleinen Format dar. Für die Adressatin der Karten, jenes unverheiratete „Fräulein Dr. R. Schapire Hamburg Osterbeckstr. 43“, standen sie in enger Verbindung zum übrigen Werk des jeweiligen Künstlers. Karl Schmidt-Rottluff bestätigte: „Da wir alle nicht gerade eifrige Briefeschreiber waren, dienten die Karten als kurze Mitteilungen über unsere Arbeit, besonders legte Rosa Schapire großen Wert darauf, die Arbeit zu verfolgen, und so sind die meisten Karten Skizzen von Bildern oder Beobachtungen.“

Chemnitzer Freundschaft

Diese Postkarten bilden einen überaus bemerkenswerten Teil der Ausstellung „Rosa. Eigenartig grün. Die Sammlerin Rosa Schapire und die Expressionisten“, die zuerst im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg zu sehen war und jetzt in den Kunstsammlungen Chemnitz. In Hamburg knüpfte die Ausstellung an die Schau „Entfesselt. Expressionismus in Hamburg um 1920“ von 2007 an und unterstrich nochmals, dass die Stadt nicht zuletzt durch das Engagement der promovierten Kunsthistorikerin Rosa Schapire zu einem bedeutenden Zentrum dieser Kunstrichtung geworden war.

In Chemnitz rückt die Freundschaft Rosa Schapires mit dem aus dem Chemnitzer Arbeitervorort Rottluff stammenden „Brücke“-Maler Schmidt-Rottluff ins Zentrum. Von ihm besitzt das Museum viele Werke. Er hatte für seine Förderin Rosa Schapire auch Schmuck und Kleiderstoffe entworfen und 1921 eigenhändig das Mobiliar für Schapires Wohnzimmer auf der Hamburger Uhlenhorst gezimmert.

1874 in Brody (Galizien) geboren und seit 1905 in Hamburg ansässig, verdiente Rosa Schapire ihren Lebensunterhalt als Autorin, Übersetzerin, Vermittlerin und Sammlerin von Kunst. Ab 1907 war sie „passives“ Mitglied der Künstlergruppe „Brücke“, wurde Mitglied der „Hamburgischen Sezession“, hielt Vorträge, leitete Volkshochschulkurse, führte durch Kunstausstellungen, gab zwischen 1919 und 1923 die Monatszeitschriften Die rote Erde und Kündung heraus und schaffte es, über den 1916 in Hamburg von ihr mitbegründeten „Frauenbund zur Förderung deutscher bildenden Kunst“ Ankäufe expressionistischer Arbeiten etwa für die Hamburger Kunsthalle zu initiieren. Daneben stand eine umfassende Publikations- und Rezensionstätigkeit, aus der das 1923 erschienene Werkverzeichnis zum grafischen Werk von Karl Schmidt-Rottluff hervorsticht. Der Expressionismus war ihre Passion.

Und so wartet die Ausstellung, die erstmals das Wirken Rosa Schapires einer interessierten Öffentlichkeit präsentieren will, mit etwa 120 Exponaten auf; Gemälden, Holzschnitten, Künstlerpostkarten, Skulpturen aus Schapires einstiger Sammlung, die nach ihrem Tod 1954 an amerikanische, britische, israelische, niederländische, österreichische und deutsche Museen verteilt worden war.

Unbekannte Hauptfigur

Doch so beeindruckend die von Leonie Beiersdorf (Hamburg) beziehungsweise Anja Richter (Chemnitz) kuratierte Schau ist, so froh man über diese längst überfällige Würdigung Schapires im öffentlichen Raum sein darf, so blass, so fast unsichtbar bleibt die eigentliche Hauptperson der Ausstellung. Zwar findet sich fast in jedem Ausstellungsraum ein Bildnis von Rosa Schapire, als Tuschfederzeichnung, als Kaltnadelradierung, als Holzschnitt, Aquarell oder als Ölgemälde. Bildnisse, geprägt von famoser Reduktion, eindringlicher Akzentsetzung oder leuchtender Farbigkeit. Doch die Person selbst, eingebunden in die für sie seit 1933 widrigen Zeitläufte, tritt zurück.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war die „galizische Jüdin“ (Schiefler) ausgegrenzt, in allen ihren kreativen Möglichkeiten eingeschränkt. Veröffentlichungen waren nur noch unter Pseudonym möglich. Vorträge konnten nur noch in ihrem privaten Salon vor engsten Freunden oder im Jüdischen Kulturbund gehalten werden. Als die Verfemung moderner Kunst durch die Nationalsozialisten in der 1937 in München erstmals gezeigten Ausstellung „Entartete Kunst“ gipfelte, wurde Schapire dort als „Kritikerin der Systemzeit“ angeprangert. Ein von Karl Schmidt-Rottluff angefertigter Holzschnitt, ein Bildnis Rosa Schapires, hing in dieser Ausstellung, die in zwölf weiteren deutschen Städten gezeigt wurde.

In Hamburg, in einem Gebäude der Schulverwaltung, besuchten 1938 136.000 Menschen die Ausstellung. In Chemnitz hatte eine solche diffamierende „Schandausstellung“ bereits im Juni 1933 stattgefunden. Nach deren Ende verschwanden die expressionistischen Werke im Depot oder wurden in Verkaufs- und Tauschgeschäften abgestoßen.

Sie hielt Vorträge, leitete Volkshochschulkurse, gab Monats-zeitschriften heraus

Schapire selbst gelang in letzter Minute die Flucht. 1948 schrieb sie an eine Freundin: „Ich bin am 18. August 1939 in London angekommen, genau zwei Wochen später begann der Krieg. (…) Die Nazis hatten mich so ausgeraubt, dass ich mit genau zehn Mark hier angekommen bin, mehr durften wir ja gar nicht aus Deutschland herausnehmen. Das Einzige, was ich von meinem ganzen Besitz hergerettet habe, ist meine große Schmidt-Rottluff-Sammlung … Meine Möbel, meine ganze Bibliothek und alles Übrige war im Lift bei meinem Spediteur in Hamburg geblieben und wurde bereits im ersten Kriegswinter beschlagnahmt und versteigert, ebenso die als Lagergeld in Hamburg für Transport nach New York hinterlegten tausend Mark.“

Drangsalierung versteckt

Doch die Hamburg-Chemnitzer Ausstellung verbleibt gerade bezüglich der Drangsalierung, der Ausraubung Rosa Schapires in allzu vornehmer hanseatisch-sächsischer Zurückhaltung. Zwar listen Texttafeln wesentliche Eckdaten von Schapires Lebenslauf auf, und der abgebildete Gestapo-Befehl zur „freiwilligen Versteigerung“ ihres Eigentums sowie die dazu gehörigen Inventarlisten mit Käufernamen werfen ein Schlaglicht darauf, wie sich nichtjüdische Deutsche bei sogenannten Juden-Auktionen bereicherten. Schapires damalige Lebensumstände intensiver zu beleuchten – diese Chance aber nutzt die Ausstellung nicht.

Dass Schapire, die bis zu ihrem Tode in bescheidenen, ja ärmlichen Verhältnissen leben musste, die von ihr nach dem Krieg beantragte „Wiedergutmachung“ erst posthum bewilligt wurde, kann sich der Besucher aus dem Wortlaut der ausgestellten amtlichen Briefwechsel lediglich mit einiger Kombinationsgabe erschließen. Hier wären mehr Informationen zur Erläuterung angebracht gewesen.

Schapire, die sich im englischen Exil auch weiterhin unermüdlich für moderne deutsche Kunst einsetzte, noch im September 1953 im Leicester Museum and Art Gallery eine Ausstellung zu Schmidt-Rottluff organisiert und den Eröffnungsvortrag gehalten hatte, kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück. Sie starb am 1. Februar 1954 auf der Freitreppe der Londoner Tate Gallery, jenem Museum, dem sie noch zu Lebzeiten das 1919 von Schmidt-Rottluff geschaffene Gemälde „Bildnis Dr. Rosa Schapire“ zugesagt hatte.

■ Kunstsammlungen Chemnitz, bis 21. Februar 2010, Katalog (Hatje Cantz Verlag) 35 €