: Wilderer und Besessene
Avantgarde der Selbstabschaffung: „Kekexili“ von Lu Chuan ist ein Spätwestern, der im Hochland von Tibet spielt – großartige Panoramatotalen und Protagonisten, die an Fords „The Searchers“ erinnern
von SVEN VON REDEN
Auf den Spuren John Fords durch das Monument Valley zu reisen – ist enttäuschend. Ford war ein Meister darin, aus wenig viel zu machen: Es sind eigentlich immer dieselben beiden steil aus der Wüste aufragenden Riesenfelsen, die in seinen Western zur majestätischen Kulisse wurden. Viel mehr gibt es auch nicht zu sehen. Gerade der Mangel an spektakulären Vistas war gewissermaßen die Voraussetzung dafür, dass sie so ikonisch wurden.
Auf dem über 40.000 Quadratmeter großen, fast menschenleeren Hochplateau Kekexili am Rande Tibets kann man die Kamera in jede Richtung halten, immer öffnet sich ein spektakulärer Blick auf die Berge. In dieser Hinsicht hatte es Regisseur Lu Chuan bei den Dreharbeiten zu seinem chinesischen Spätwestern einfach. Er musste bei den Dreharbeiten allerdings anderen Widrigkeiten trotzen: Kekexili liegt im Schnitt auf 4.600 Meter Höhe, Wetter und Höhenkrankheit machten Darstellern und Team zu schaffen. Nach einem Drehtag, in dem er die Schauspieler immer wieder durch einen Fluss rennen ließ, konnte er sein ganzes Ensemble wegen Unterkühlung in ein Krankenhaus einliefern. Der Effekt der sauerstoffarmen Luft auf den menschlichen Körper wird in einer Szene von „Kekexili“ eindrucksvoll vorgeführt, in der eine Verfolgungsjagd einen grotesken Verlauf nimmt: Der Verfolger ist dem im Schneckentempo einen Berg hinauf Fliehenden zum Greifen nahe, und doch gelingt es ihm nicht, den letzten Meter zu überwinden. Erst als der Verfolgte mit einem Lungenödem zusammenbricht, kann er ihn schnappen.
„Kekexili“ handelt von einer epischen Verfolgungsjagd, die auf wahren Begebenheiten beruht. Ende der Neunzigerjahre war das Chiru, eine tibetische Antilopenart, vom Aussterben bedroht. Wilderer jagten die Tiere, um ihre begehrten Felle teuer in den Westen zu verkaufen. Der ehemalige tibetische Rotarmist Ri Tai stellte daraufhin eine Bergpatrouille aus Freiwilligen zusammen, die im Auftrag der lokalen Regierung, aber ohne Bezahlung, den Wilderern das Handwerk legen sollte. „Kekexili“ erzählt die Geschichte Ri Tais aus der Sicht des Journalisten Ga Yu, der aus Peking nach Kekexili geschickt wurde, um über die Truppe zu berichten, nachdem einer der Freiwilligen von den Wilderern getötet wurde. Gemeinsam bricht er mit der Bergpatrouille auf, um die Mörder zu finden. Auf der Reise zeigt sich Ri Tai immer mehr als Besessener, der sein Leben und das Leben der anderen seinem Ziel unterordnet.
Ein typischer Westerntopos: Der wortkarge, wettergegerbte Protagonist nimmt das Recht in die eigene Hand – vor einer malerischen Kulisse, in der die Zivilisation noch nicht Fuß gefasst hat. Auch das Motiv der epischen Verfolgungsjagd, in der die moralischen Grenzen zwischen Verfolgern und Verfolgten immer mehr verschwimmen, kennt man aus Klassikern des Genres wie Anthony Manns „Winchester 73“ und „The Naked Spur“ und natürlich John Fords „The Searchers“, in dem sich John Wayne durch das Monument Valley auf eine jahrelange Suche nach seiner entführten Nichte macht und letztlich mehr mit den Indianern gemein hat, die er verfolgt, als mit seiner eigenen Familie. Auch in „Kekexili“ wird immer deutlicher, dass Wilderer und Wildhüter mehr gemein haben, als es zunächst scheint: Die Mitglieder der Bergpatrouille leben ebenfalls von den Fellen der Chiru – sie verkaufen einfach die beschlagnahmte Ware der Wilderer. Ist ihr Engagement also wirklich nur zum Wohle des Naturschutzes?
Die Wildhüter sind ebenfalls eingebunden in die Ausbeutungskette der natürlichen Ressourcen – wären sie erfolgreich, würden sie ihre eigene Lebensgrundlage zerstören. So wie die Tragik des Westerners darin lag, dass er die Vorhut bildete für all die Siedler und Kaufleute, die das ehemals freie, urwüchsige Land einzäunten und einer Verwertungslogik unterwarfen. Er war letztlich ebenfalls die Avantgarde seiner eigenen Abschaffung.
In „Kekexili“ ist der Schutz der Fauna ein Zeichen besonderer Zivilisiertheit – die sich jedoch niemand leisten kann. Das postmoderne Bewusstsein scheint zu Beginn selbst in die abgelegensten Bergregionen des Himalajas vorgedrungen, doch mit der Zeit wird klar, dass man eher einer archaischen Racheparabel folgt. Passenderweise drehte Regisseur Chuan im Italowestern-Superbreitwandformat 2,35:1. Klein und unbedeutend verlieren sich die Akteure vor den sich im Dunst auftürmenden Bergen. Die Natur scheint gleichgültig gegenüber den Werten und Machenschaften der Menschen. Gut und Böse sind keine Kategorien, die hier zählen, das Überleben ist schwierig genug.
„Kekexili“. Regie: Lu Chuan. Mit Zhang Lei, Qi Liang u. a., China/Hongkong 2004, 95 Min.