ALLE STARREN AUF DIE ANZEIGETAFEL, UM ZU SEHEN, WO DENN NUN IHR ZUG WOHL EINFAHREN WIRD : Die Gesellschaft des Gleisspektakels
VON JULIA GROSSE
Vor ein paar Tagen stand ich morgens um 8 Uhr im Bahnhof Waterloo und wartete auf meinen Zug. An deutschen Bahnsteigen hat man, wenn man denn pünktlich ist, immer noch einen Moment, um durch die Zeitung zu blättern oder seinen Kaffee hinunterzuspülen. In London dagegen hat das Warten der Massen schon rein visuell etwas sehr Performatives. Niemand steht entspannt am Gleis, stattdessen starrt man in der Wartehalle als Teil einer großen Menschentraube auf die Anzeigetafeln. Hinter den meisten Zügen steht dort lange Zeit nur einen Gedankenstrich, denn tatsächlich weiß niemand bis kurz vor Abfahrt, auf welchem Gleis sein Zug eigentlich ankommen wird. Wie beim Ratespiel. Ästhetisch sehr reizvoll wird dieses hilflose Starren in den Momenten, in denen die Anzeige endlich die Infos herausrückt. Zug nach Bristol, Gleis 2. Was dann passiert, ist reine Impro-Performance aus zum Teil 30 Geschäftsleuten in dunklen Kostümen und Anzügen, die im Gleichschritt auf das angegebene Gleis zustürzen. Sieht jedes Mal faszinierend aus. Die logistische Unfähigkeit britischer Bahnunternehmen als Kunstwerk.
Mir fiel der Kommentar eines britischen Sportreporters ein, den er während der Fußball WM in Deutschland verfasst hatte. Der Mann widmete fünfzig euphorische Zeilen einer einzigen, ihm bisher unbekannten, spektakulären Entdeckung: „Ich komme am deutschen Bahnhof an und da steht bereits die Gleisnummer meines Zuges. Und das ist nicht alles! Wenn ich in zwei Wochen von München nach Köln fahren will, steht schon vorher fest, auf welchem Gleis der Zug in Köln losfahren wird! Wieso schaffen wir Briten das nicht?“ Ich dachte bisher immer, es läge an der Geschäftspolitik der vielen privaten Bahnunternehmen. Nicht festlegen, schön flexibel bleiben.
Nun stand ich frühmorgens in Waterloo und konnte weder Gleis noch meinen Zug an der Anzeigetafel finden. Und dann passierte etwas Groteskes: Ich erkundigte mich an einem der wenigen Schalter, wo noch echtes Personal sitzt, und plötzlich kramte die Dame ein dickes Buch hervor, blätterte und tippte mit dem Finger auf die Gleisnummer. Die stand dort in ihrem Buch! Sie sah mein verdutztes Gesicht und ich hatte das Gefühl, dass sie mir als stumpfem Endverbraucher gerade ein Geheimnis verraten hatte, das nicht für mich bestimmt war. Doch was ist nun der wahre Grund, warum man den angepassten Briten Tag für Tag dieses lächerliche Schauspiel vorführt? „Das ist einer der hysterischen ‚Health and Safety‘-Gründe, weil man die ganzen Leute nicht an den Gleisen herumhängen haben will“, sagt ein Freund. Doch ich habe eine andere Theorie. Ich glaube, es ist perfider, gemeiner. Denn de facto gefällt es den Wartenden! Es eine weitere absurde Spielart von Spektakel und Entertainment. Hier werden systematisch Spannung und Wettbewerb aufgebaut (wie weit wird mein Gleis weg sein? Welches ist als nächstes dran, seins oder meins?). Ich habe die Minikontrollverluste in Londons Bahnhöfen immer heimlich genossen. Doch der Zauber ist weg, seit die Dame am Schalter ihr Buch hervorholte.
■ Julia Grosse ist taz-Kulturkorrespondentin in London