Videokunst: Entfesselte Bilder

Hitchcock oder Buñuel: Das Künstlerduo Christoph Girardet & Matthias Müller, beide Absolventen der Braunschweiger Kunsthochschule, entbinden Filmbilder ihres funktionalen Charakters.

Beschäftigung mit dem surrealistischen Film: "Cut" ist die aktuellste in Hannover gezeigte Arbeit. Bild: © VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Künstlerische Zweierteams sind keine Seltenheit. Und doch stellt sich bei ihnen immer die Frage, wie sie funktionieren: Wer übernimmt da welchen Part – und dominiert nicht einer den anderen? Sowohl allein als auch zusammen arbeiten die Videokünstler Christoph Girardet, geboren 1966 im niedersächsischen Langenhagen, und Matthias Müller, Jahrgang 1961 aus Bielefeld. Sie dürften also wissen, welche Vor- und Nachteile diese Arbeitsweisen haben und welche Qualitäten der Partner in eine gemeinsame Arbeit einbringen kann.

Sie hatten das Glück, ihre Zusammenarbeit mit Auftragsproduktionen beginnen zu können. Die erste stellte die beiden sogar in den prominenten Kontext einer Cindy Sherman und eines Douglas Gordon: in einer Ausstellung zum 100. Geburtstag des Filmregisseurs Alfred Hitchcock. Dazu destillierten Girardet & Müller im Jahr 1999 visuell tragende Motive aus 40 Hitchcock-Filmen. Und verfestigten so auch ihre künstlerische Methode: Sie kombinieren vorhandenes Filmmaterial, „found footage“, nach ästhetischen wie narrativen Momenten neu.

Gefundenes Material

Der Kunstverein Hannover zeigt jetzt einen repräsentativen Querschnitt aus 14 Jahren Zusammenarbeit Girardets und Müllers, die sich in mehr als 20 Filmen unterschiedlicher Länge niedergeschlagen hat. Würde man sämtliche Beiträge der Ausstellung ganz anschauen, käme man locker auf Spielfilmformat. Betitelt ist die Ausstellung „Tell Me What You See“: nicht nur Anglizismus und Verweis auf das visuelle Medium Film, sondern auch eine Beschreibung dialogischen Arbeitens: Der eine erzählt dem anderen, was er von einer Idee hält, was er in einer Filmszene sieht, wie er sie interpretiert.

Kennen gelernt haben sich Christoph Girardet und Matthias Müller an der Kunsthochschule Braunschweig, wo beide in den späten 1980er Jahren bei Birgit Hein studierten. Ihre Klasse sei das Epizentrum des experimentellen Films in Deutschland gewesen, so Müller, ein vitaler Ort, an dem es richtig zur Sache ging. Müller hat seit 2003 nun selbst eine Professur für Experimentalfilm inne, an der 1990 gegründeten Kunsthochschule für Medien in Köln, einer Institution interdisziplinärer Lehrangebote aus der Schnittmenge von Film, Kunst und Wissenschaft.

Traumwelt im All

Müllers Statements zur gemeinsamen Arbeit kommen mit der Routine und dem Sendungsbewusstsein eines Lehrenden daher, während Christoph Girardet eher den bizarren Humor des erfinderischen Tüftlers pflegt. Da ist zum Beispiel sein Kommentar zum Film „Meteor“ aus dem Jahr 2011: In diesem wohl narrativsten Produkt von Girardet & Müller träumt sich ein kleiner Junge in eine phantastische Welt im All.

Schwarz-weiß-Szenen aus den 1930 bis 40er Jahren sind mit farbigen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts verschnitten, die Tonspur ist sonor eingesprochen vom britischen Filmemacher John Smith. Girardet sieht seine mediale Initiation während der Kindheit gerade in der Science Fiction, genauer: der sowjetischen. Dort sei das Weltall immer grau, und wenn die Reisenden irgendwo ankämen, sei da auch nichts Spektakuläres, anders als in US-Filmen. Nur die Phantasie trage die Erzählung.

Einen großen Bogen schlägt auch „Locomotive“ (2008): Für das Bewegtbild-Triptychon wurden rund 200 Spielfilme verschnitten. Die dreikanalige Videoinstallation zeigt, perfekt choreographiert, filmische Stereotype: fahrende Lokomotiven, die in einem finsteren Tunnel verschwinden oder aus ihm wieder herauskommen, aus dem Zug herauspurzelnde Passagiere, die melancholische Stimmung einsam Reisender. Diese in den Originalen nicht unbedingt wesentlichen Szenen werden per theatralischer Tonspur zu einem Epos von Abschied, Einsamkeit und auch nahendem Tod. Das öffnet die Augen für die unterschwellig emotionalisierenden Instrumente des klassischen Kinos und ist zweifellos unterhaltsam, in der Gesamtlänge von gut 20 Minuten inhaltlich aber doch etwas schütter.

Natürlich legt die Arbeitsweise von Girardet & Müller den Vergleich zur Collage der bildenden Kunst nahe. Diese Kunstform einer europäischen Avantgarde nach dem ersten Weltkrieg erfährt derzeit eine Renaissance, auch wenn der gesellschaftskritische Impetus etwa eines Kurt Schwitters fehlt.

Heilsversprechen und Blut

In der aktuellsten Arbeit der Ausstellung, dem Film „Cut“ von 2013, beschäftigen sich Girardet & Müller so auch mit dem surrealistischen Film, etwa Luis Buñuels und Salvador Dalís Meisterwerk „Un chien andalou“ aus dem Jahr 1929. Auch ohne direktes Zitat ist da der ikonisch gewordene Schnitt durchs Auge als Referenz präsent. Dazu kommen Szenen von Wunden – aber auch Heilsversprechungen – und Blut in variantenreichen Formen. Diese visuelle Montage ohne Erzählstrang dürde auch mal wehtun, so Girardet.

In einem großen Lichtkasten im Nebenraum, ihrem Seziertisch, sind Ausdrucke der Schnittfolgen versammelt. Sie zeigen die bewusste Dekonstruktion der Imaginationsmaschine Spielfilm: es gibt keine Anschlüsse mehr, jene sonst von der Continuity penibel überwachte lückenlose Plausibilität von Ausstattung, Kostüm und Zeitablauf. Girardet & Müller entfesseln den Film: zum eigenständigen ästhetischen Ereignis.

Christoph Girardet & Matthias Müller, „Tell Me What You See“: bis 16. März, Kunstverein Hannover
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