Buddeln bei Saddam

Abenteuer Archäologie: Als wäre die Geschichte der irakischen Hochkulturen nicht schon spannend genug, erweitern Raubgräber sie gerade um eine hässliche Episode. Dass die jüngsten Plünderungen im Standardwerk „Irak in der Antike“ fehlen, mindert die Faszination des Buches nicht

VON KLAUS HILLENBRAND

Susanne Osthoff war wohl die letzte Archäologin, die es noch wagte, Ausgrabungsstätten im „Todesdreieck“ südlich von Bagdad zu besuchen. Gegraben hat sie dort, an den ältesten Städten der Menschheit, nicht. Osthoff ging es einzig darum, die flächendeckenden Schäden durch Raubgräber fotografisch zu dokumentieren und damit gegen die Plünderungen zu kämpfen. „In zwei Wochen wird hier die Arbeit von fünfzehn Jahren zerstört“, wird sie im aktuellen Spiegel zitiert.

Seit dem Einmarsch der US-Armee im Frühjahr 2003 sind unzählige Schätze gestohlen worden. Gleich im April verschwanden innerhalb weniger Tage mehr als 10.000 antike Exponate aus dem Bagdader Nationalmuseum. Dass etwa ein Drittel davon wieder aufgetaucht ist – unter anderem, weil mancher Dieb damit nichts anfangen konnte –, ist nur ein schwacher Trost.

Experten befürchten, dass ein großer Teil der gestohlenen Artefakte längst den Weg in die internationale Kunstszene gefunden hat. Schon 1991 verschwanden im 1. Golfkrieg zirka 4.000 archäologische Objekte – zehn sind bisher wieder aufgetaucht. Gewiss haben in den wenigsten Fällen die Besatzer zugegriffen, sondern eher Saddam Husseins ehemaliger Freundeskreis.

Der Diebstahl geht weiter: Die archäologischen Stätten der Sumerer im Südirak werden systematisch geplündert – unbeachtet von der Obrigkeit. 100 Kilometer südlich von Bagdad befindet sich eine Region von der Größe Baden-Württembergs faktisch in den Händen von Raubgräbern, sagt Margarete van Ess vom Deutschen Archäologischen Institut. Die Plünderungsgebiete seien offenbar unter verschiedenen Organisationen aufgeteilt, erklärte sie in der FAZ. Mit internationaler Hilfe hat die irakische Antikenverwaltung bewaffnete Wächter eingestellt, doch die Lage im „Todesdreieck“ bleibt unkontrollierbar.

Nach dem Studium neuer Luftbilder habe man feststellen müssen, dass die Zerstörungen weit schlimmer als bisher angenommen sind, sagte van Ess. Der Konservator des British Museum in London, John Curtis, beklagt, dass amerikanische und polnische Truppen die Ruinenstadt Babylon systematisch ruiniert haben. Zwar sind die US-Truppen dort vor einem Jahr wieder abgezogen. Doch antike Fragmente wurden in Sandsäcke abgefüllt, Panzer haben den Boden aufgerissen. „Das ist etwa so, als wenn man ein Militärlager um die Pyramiden von Ägypten oder um Stonehenge in Großbritannien einrichten würde“, beschwert sich Curtis.

„Der Golfkrieg von 1990 hat jeder archäologischen Aktivität im Irak ein Ende gesetzt, aber es ist sicher, dass die Grabungen früher oder später wiederaufgenommen werden“, schreibt Georges Roux optimistisch in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Standardwerk „Irak in der Antike“.

Roux selbst ist inzwischen gestorben. Deshalb findet die jüngste archäologische Leidensgeschichte des Landes in dem Band keinen Platz mehr – ein vernachlässigenswertes Manko. Was sind schon zwanzig Jahre Krieg und Massenmorde unter Saddam Hussein, verglichen mit 40.000 Jahren Menschheitsgeschichte? Roux, der Jahrzehnte seines Lebens im Irak verbracht hat, beschreibt und analysiert nicht nur die Blütezeiten irakischer Hochkulturen. Sein Werk, auf Englisch schon 1964 erschienen, umfasst die Spanne von der Frühzeit der Menschheit bis zur Spätantike und ist eingängig geschrieben wie ein Krimi.

„Mesopotamien“ – zwischen den Flüssen – lautet der griechische Name für den Irak, doch wird er dem Abenteuer Archäologie nicht gerecht. Zwar entstand tatsächlich ein Großteil der Hochkulturen an oder zwischen Euphrat und Tigris. Doch so wie noch bis vor wenigen Jahren Beduinenstämme unbekümmert die modernen Grenzen überschritten, so genügt auch der Altertumsforschung die enge Begrenzung nicht. Auch Teile der heutigen Türkei, Syriens und des Iran werden in Roux’ Studie berücksichtigt, denn diese Regionen waren zusammen mit dem Irak einst „Teil einer brillanten kulturellen Einheit“.

In diesem Gebiet gelang der Menschheit vor etwa 7.000 Jahren erstmals der Sprung vom Dorf zur Stadt: In Uruk etwa, zwischen Bagdad und Basra, haben tausende Menschen gelebt. Eine 9.700 Meter lange Mauer umgab die Stadt. Hier erfanden die Sumerer schon vor mehr als 5.000 Jahren das Rad, das Segel, den Pflug. Die Pyramiden in Ägypten waren noch nicht gebaut, da gelang den Sumerern die großartigste Erfindung aller Zeiten: die der Schrift. In Uruk haben Archäologen die ältesten Texte der Welt gefunden: auf Tontafeln geschriebene Piktogramme aus der Zeit um 3200 vor Christus. Diese Piktogramme auf gebrannten Tontafeln entwickelten sich weiter: Aus Kreisen, Halbkreisen und Einkerbungen, Tierköpfen und Schiffen wurden abstrakte Zeichen – die Keilschrift. Aus simplen Mitteilungen etwa über Getreidelieferungen erwuchs in wenigen Jahrhunderten eine hochkomplexe Literatur.

Die Sumerer lebten im fruchtbaren Gebiet nahe Euphrat und Tigris und waren hervorragende Binnenschiffer: Kanäle verbanden ihre Städte und Dörfer mit den großen Flüssen. Steine und Bauholz wurden importiert, Agrarerzeugnisse und Asphalt exportiert. Bis heute reichlich vorhandenes Erdöl diente als Mörtel, zum Ausbessern der Schiffe und zur wasserdichten Auskleidung von Kanälen und Toilettenanlagen. Allerdings auch, wie Roux fast verschämt schreibt, zur Herstellung von Brandwaffen.

In Uruk wurde auch die 5.000 Jahre alte marmorne Maske entdeckt, die später aus dem Bagdader Nationalmuseum gestohlen wurde. Die „Dame von Warke“, dieses einmalige Zeugnis der ersten urbanen Kultur der Weltgeschichte, konnte glücklicherweise wiederbeschafft werden: Sie fand sich vergraben in einem Obstgarten am Stadtrand von Bagdad.

Die sumerische Kultur verbreitete sich weiter, nach Nordsyrien, nach Palästina und bis zum Oman. Doch woher die Sumerer eigentlich kamen, ist bis heute nicht klar. Ihre Kultur freilich war so fortschrittlich, dass sie den Untergang dieses Volkes um 2000 vor Christus überdauerte. Mehr als 3.000 Jahre lang, bis zum 1. Jahrhundert nach Christus, wurde die Keilschrift verwendet. Etwa gleichzeitig kam mit dem Christentum im Römischen Reich eine neue Religion in Mode, in deren Schriften die Große Flut eine prominente Rolle spielte. Doch auch diese Sintflut trägt offenbar das Copyright der Sumerer. Im „Gilgamesch-Epos“, verfasst auf Tontafeln aus Ninive, wird ausführlich über eine sechs Tage und Nächte währende Flut berichtet, die die Menschheit beinahe vernichtet hätte. Doch Gott Ea gab dem Menschen Utanapischtim rechtzeitig einen Tipp, der daraufhin ein großes Schiff mit sieben Decks baute …

Auf die Sumerer folgten die amurritischen Königreiche und damit die Trennung von Religion und Staat. Priester dienten fortan den Göttern, die weltlichen Herrscher aber, schreibt der Historiker Roux, „bemühten sich, die Wirtschaftsmaschine durch Erlasse in Bewegung zu halten und eine ‚soziale Gerechtigkeit‘ herzustellen“. So lautet der Gesetzestext Hammurapis, Oberherrscher über die amurritischen Königreiche, aus dem 18. Jahrhundert vor Christus:

 „Um im Land das Recht zu verkünden,

 Um das Schlechte und Perverse

 auszulöschen,

 Damit der Starke den Schwachen

 nicht unterdrücke,

 Um über den Völkern wie die Sonne

 zu erscheinen,

 Und das Land in seinem Licht

 erstrahlen zu lassen …“

Vor allzu engen Vergleichen mit heutigen Zivilisationen sei freilich gewarnt, denn der Gesetzeskodex unterschied zwischen Menschen, Sklaven und einer weiteren, dem Palast verbundenen Bevölkerungsgruppe. Und auch die Begräbnisrituale der frühen Herrscher Mesopotamiens sind für heutige Zeitgenossen zumindest gewöhnungsbedürftig: Der verstorbene König erhielt nicht nur kostbare Grabbeigaben, offenbar musste ihm auch der halbe Hofstaat in den Tod folgen. In einem Königsgrab in Ur fand ein Archäologe die Überreste von 63 Menschen.

Andererseits: In Assyrien, das später zum Weltreich aufstieg, waren nicht nur Königspaläste, sondern auch manche Privathäuser mit großen Bibliotheken aus Tontäfelchen ausgestattet. Und offenbar gab es auch schon die ersten Literaturwissenschaftler. Mathematiker stellten ihren Schülern zu Beginn des zweiten Jahrtausends vor Christus Rechenaufgaben, Astronomen berechneten die Auf- und Untergänge der Venus. Der Kalender unterschied wie heute 12 Monate – die allerdings zu kurz waren, um zusammen ein Jahr zu ergeben. Deshalb schob der mesopotamische Herrscher bei Bedarf Zusatzmonate ein. Die Bemühungen der assyrischen Wissenschaft fruchteten schließlich um 375 vor Christus, als Kidinnu die Dauer eines Jahres nahezu exakt bestimmte, die Abweichung betrug nur noch gut vier Minuten. Sollte der Astronom erkranken, so sorgten Mediziner sich um seine Gesundheit. Sogar Texte zur Behandlung von Depressionen fanden sich auf den Tontafeln von Ninive.

In Babylon lebten zu dieser Zeit vermutlich mehr als 100.000 Menschen, die gleich von zwei Mauern geschützt wurden. Wer die Kunst dieser laut dem Griechen Herodot prächtigsten aller Städte besichtigen will, muss nicht in den Irak reisen – Berlin reicht. Im Pergamonmuseum steht das rekonstruierte Istartor mit seinen Tierdarstellungen.

Urbanität und Wissenschaft waren aber nur eine Seite der assyrischen Herrschaft, „Zerstörungswut“ (Roux) die andere. Dieser Tradition folgend, hat sich Saddam Hussein als neuer Nebukadnezar feiern lassen. Dessen Armee drang bis nach Syrien und Palästina vor. Die Juden Jerusalems ließ er in Massen deportieren, die Stadt dem Erdboden gleichmachen. Und das war nur einer von vielen Feldzügen, die Assyrien zur ersten Weltmacht der Geschichte machten.

Derzeit ist eine etwas andere Weltmacht im Irak tätig. Die Mauern von Uruk sind verschwunden. Kein seriöser Gräber traut sich noch nach Babylon. Die einzigen im Irak derzeit tätigen Archäologen sind Forensiker, die die Massengräber aus Saddam Husseins Mordzeiten untersuchen.

Doch vollständig zerstören können selbst Raubgräber das kulturelle Erbe des Irak nicht. Unter unscheinbaren Hügeln in Syrien und dem Irak, so genannten Tells, verbergen sich Siedlungen und ganze Städte, Königsgräber und Keilinschriften aus der Antike. 6.000 Tells gelten bis heute als völlig unerforscht – eine Zahl, die Hoffnung macht.

Derzeit ist Kultururlaub im Irak keine gute Idee. Doch warum auch? Roux und sein Berliner Koautor Johannes Renger bringen die unglaubliche Geschichte des Irak nun auch deutschen Lesern nahe. Tickets zum Preis von 49,90 Euro gibt’s in jedem Buchladen.

KLAUS HILLENBRAND, Jahrgang 1957, ist Chef vom Dienst der taz Georges Roux, Johannes Renger: „Irak in der Antike“. Verlag Philipp von Zabern, Mainz, 292 Seiten mit zahlreichen Illustrationen und Karten, 49,90 Euro