: Ohne Stimme
Der Wahlboykott der Opposition in Venezuela war eine Farce. Die Lage der Demokratie ist dennoch kritisch – der hoffnungsvolle, gesellschaftliche Aufbruch droht zu ersticken
Bei den Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag ist die venezolanische Opposition ihrer gewohnten Strategie treu geblieben. Sie hat sich – diesmal mit Hilfe eines kurzfristig anberaumten Wahlboykotts – als Opfer politischer Verfolgung zu stilisieren versucht und damit international für Aufsehen gesorgt.
Seit bald fünf Jahren bemüht sich die im Wesentlichen von den traditionellen Parteien, Unternehmerverbänden und Medienkonzernen dominierte Opposition, die Regierung Chávez mit allen erdenklichen Mitteln zu stürzen. 2001 blies sie ausgerechnet gegen eine Landreform zum Generalangriff, im April 2002 inszenierte sie – als sollten Baudrillards Thesen zu Simulacrum und Simulation bestätigt werden – eine Rebellion des „demokratischen Ungehorsams“, die letztlich allerdings als ganz gewöhnlicher Putschversuch in die Geschichte eingehen wird, und zur Jahreswende 2002/03 schließlich sorgte sie mit Aussperrungen und Hafenblockaden für den völligen Zusammenbruch der Wirtschaft. Dass Chávez bei einem von der Opposition erzwungenen Referendum im August 2004 trotzdem von 60 Prozent der Wähler im Amt bestätigt wurde, zeigt, wie groß die reale Unterstützung der Opposition ist.
Der Boykott der Parlamentswahlen vom Sonntag reiht sich lückenlos in die Kette dubioser Umsturzversuche ein. Allzu fadenscheinig waren die Argumente der Opposition. Die beanstandeten Wahlautomaten etwa gelten im internationalen Maßstab als ausgesprochen transparent. Sie drucken parallel zur digitalen Zählung Wahlzettel aus, die der manuellen Überprüfung der Ergebnisse dienen. Die von der Opposition kritisierte Zusammensetzung der Wahlaufsichtsbehörde CNE (in der das Regierungslager über eine leichte Mehrheit verfügt) kann ebenfalls kaum als Argument gegen freie Wahlen gelten.
Internationale Wahlbeobachter, etwa der Carter Foundation oder der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), verfolgen die Urnengänge in Venezuela stets aufmerksam. Die erstmals praktizierte Verbindung von Listen- und Persönlichkeitswahl schließlich, die so genannten morochas (Zwillinge), verschafft Parteienbündnissen zwar Vorteile, widerspricht aber keineswegs demokratischen Gepflogenheiten. Und dass die eingetragene Wählerschaft unter Chávez deutlich zugenommen hat, ist nun auch nicht gerade ein Kennzeichen von Autoritarismus. Die Regierung hat die Registrierung von Slumbewohnern gefördert und darüber hinaus vielen der etwa zwei Millionen illegalen Einwanderer ermöglicht, sich einbürgern zu lassen.
Man muss es noch einmal ganz deutlich sagen: Die Opposition hat diese Wahlen nicht deswegen boykottiert, weil sie in ihren demokratischen Rechten beschnitten worden wäre, sondern weil sie mit einem katastrophalen Ergebnis rechnen musste. Gerade einmal 40 von 167 Parlamentssitzen wurden ihr vorhergesagt. Paradoxerweise verdeckt das neuerliche Spektakel der Opposition, dass es über den Zustand der venezolanischen Demokratie durchaus Kritisches anzumerken gäbe – allerdings in einem anderen Sinn, als es die Opposition beklagt. Das Problem besteht nämlich nicht in der Diskriminierung der Mittel- und Oberschichten. Diese verfügen nach wie vor über beträchtlichen Einfluss und die geballte Medienmacht.
Undemokratisch sind die Verhältnisse vielmehr, weil die besitzlose Bevölkerungsmehrheit auch unter der Regierung Chávez von Entscheidungsprozessen und politischer Repräsentation weitgehend ausgeschlossen geblieben ist. Zwar finanziert die Linksregierung weltweit einzigartige Bildungs-, Wohlfahrts- und Gesundheitsprogramme, doch von der versprochenen politischen Umgestaltung der Gesellschaft ist bislang wenig zu spüren.
Das ist umso gravierender, als Venezuela in der 1999 verabschiedeten Verfassung als „partizipative, protagonische Demokratie“ definiert wird. Bürgerbeteiligung, direktdemokratische Einrichtungen und Selbstverwaltung sind verfassungsrechtlich verbrieft. Sechs Jahre nach Verabschiedung dieser Verfassung, die von vielen Venezolanern gerade aus der Unterschicht stolz in der Hosentasche bei sich getragen wird, ist die „Demokratie neuen Typs“ aber immer noch blasse Theorie.
Zwar sind im ganzen Land Basisorganisationen entstanden, und in den Armenvierteln artikuliert sich ein bemerkenswertes Selbstbewusstsein. Doch strukturell ähnelt Chávez’ Fünfte Republik der alten politischen Ordnung erschreckend. So wurden die lokalen Planungsbeiräte, die die direkte Mitverwaltung von Bürgern über die Kommunalhaushalte sichern sollen, vergangenes Jahr in Caracas als basisferne Wasserköpfe gegründet. Die ständige Anrufung des „Kommandanten Chávez“ bereitet Opportunismus und Claqueurswesen das Feld. Und die politische Repräsentation schließlich wird heute ganz ähnlich ausgehandelt wie in den vier Jahrzehnten des von Sozial- und Christdemokraten dominierten Punto-Fijo-Systems.
Auf den Kandidatenlisten für die Parlamentswahl am Sonntag fanden sich entgegen anderer Ankündigungen kaum Vertreter von Nachbarschaftsorganisationen und sozialen Bewegungen. Die gemäßigten Linksparteien MVR, Podemos und PPT, aber auch die vermeintlich radikaleren Gruppierungen wie Lina Rons UPV oder die Tupamaros haben im Vorfeld der Wahlen auf übelste Weise um Parlamentssitze geschachert. Aus der Sicht der nicht in Parteien organisierten Bevölkerung war die Kandidatenkür damit von genau jenem Klientelsystem bestimmt, über das in der Erdölrepublik Venezuela seit jeher politische Posten und damit auch Öleinnahmen verteilt werden. Verbal erkennt die Regierung Chávez dieses Problem durchaus an. José Vicente Rangel, venezolanischer Vizepräsident und Grandseigneur der Linken, sagte vor wenigen Wochen, sein Land werde sich nur dann von Korruption und Klientelismus befreien können, wenn die repräsentative Demokratie von neuen, partizipatorischeren Formen abgelöst werde. Doch ob das Regierungslager diesen Bekenntnissen auch Taten folgen lassen wird, steht in den Sternen. Bei den Parlamentswahlen ist die Chance auf jeden Fall vertan worden, das politische System für jene gesellschaftliche Mehrheit ohne Stimme und Repräsentation zu öffnen. Die in Venezuela zu spürende Aufbruchstimmung wird in der neuen Asamblea Nacional nicht vertreten sein.
Die Bevölkerungsmehrheit hat das offensichtlich erkannt: Nur 25 Prozent der Wähler haben ihre Stimme abgegeben. Das ist zwar für venezolanische Verhältnisse kein Rekord – die Wahlbeteiligung lag schon niedriger. Doch es entspricht eben auch nicht den Erwartungen des von einer „bolivarianischen Revolution“ sprechenden Regierungslagers. Venezuela ist eine große Hoffnung für Lateinamerika. Doch leider ist gut möglich, dass der gesellschaftliche Aufbruch dort von den Führungs- und Kontrollfantasien neuer politischer Eliten schon bald wieder erstickt werden wird. RAUL ZELIK