Unter Piraten

DEMOKRATIE Unsere Autorin wollte zu dieser neuen Mitmachpartei und die Welt vom Küchentisch aus verändern. Auf dem Höhepunkt des Hypes trat sie ein. Und blieb, als er abflachte. Eine Expedition ins Innerste einer politischen Hoffnung

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Im Schatten: Nach ihrer Gründung im Herbst 2006 war die Piratenpartei Deutschland mehrere Jahre lang eine Insiderveranstaltung. Bis Anfang 2009 hatten sie bundesweit weniger als 900 Mitglieder. Erst die Debatte über die von Ursula von der Leyen (CDU) geforderten Internetsperren und die „Zensursula“-Gegenkampagne bescherte den Piraten erstmals mehr Aufmerksamkeit und Tausende neuer Mitglieder.

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Im Licht: Mit dem Einzug von 15 Piraten ins Berliner Abgeordnetenhaus im Herbst 2011 starteten ein gigantischer Medienrummel und ein bundesweiter Siegeszug der Partei. Sie kam auch im Saarland, in Schleswig-Holstein und in NRW in die Landtage – und überholte in Umfragen zur Bundestagswahl sogar die Grünen. Die Mitgliederzahl explodierte binnen wenigen Monaten auf mehr als 30.000.

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Im Fall: Im Frühsommer 2012 drehte sich die Stimmung. Streitereien zwischen Bundesvorstandsmitgliedern und bizarre Aktionen prägen seither das öffentliche Bild. Der Einzug in den Niedersächsischen Landtag misslang, die Piraten stürzten in den Umfragen zur Bundestagswahl ab. In den Medien dominieren seitdem die Twitter-Keifereien mancher Führungsköpfe.

VON ASTRID GEISLER
UND DIETER JÜDT (ILLUSTRATION)

Neuerdings schiebe ich manchmal unauffällig die Hand über die Rückseite meines Smartphones, bevor ich es in der S-Bahn oder am Spielplatz aus meiner Manteltasche ziehe. Es muss ja nicht jeder gleich den Aufkleber sehen: eine schwarze Fahne auf weißem Grund. Das Logo der Piraten.

Vor neun Monaten habe ich das runde Abziehbild auf mein Telefon geklebt. Ich war gerade Piratin geworden – und froh, dank des Stickers nie mehr versehentlich mit dem Handy meines Freundes aus dem Haus zu gehen. In meiner Nachbarschaft in Berlin-Friedrichshain hatten ein halbes Jahr zuvor 26 Prozent der Wähler für die junge Partei gestimmt. Die Piraten galten als schrullige, aber innovative Netzavantgarde.

Sogar die New York Times schickte ihren Korrespondenten in eine Friedrichshainer Eckkneipe, um in diesem Piraten-Stammlokal dem Erfolgsgeheimnis der neuen Überfliegerpartei nachzuspüren.

Heute, nach monatelangem Machtkampf im Bundesvorstand und einer unüberschaubaren Zahl bizarrer Schlagzeilen, schwärmt immerhin mein vierjähriger Sohn noch von „den Piraten“. Die meisten anderen finden die Partei peinlich, wenn nicht gar überflüssig.

Eigentlich erstaunlich: Als ich im vergangenen Frühjahr eintrat, waren die Piraten nicht unfähiger oder erfinderischer, verlogener oder liebenswerter als heute.

Sie hatten mich neugierig gemacht mit ihrer Kritik an der Intransparenz und Verkrustung des Politikbetriebs – und ihrer Verheißung, die Demokratie endlich ins Internetzeitalter zu überführen. Ich selbst fand es überfällig, dass Politiker endlich mal ihre Ahnungslosigkeit gestanden. Es kam mir zeitgemäß vor, dass die Partei so postideologisch auftrat.

Einige Kommentatoren warfen den Piraten vor, jedes ihrer Ziele könne, kaum proklamiert, von der allmächtigen Basis quasi per Mausklick wieder gekippt werden. Wunderbar! Ich verstand das als Aufforderung zum Mitmachen, als spannendes politisches Experiment.

Diese neuartige, virtuelle Homeoffice-Demokratie der Piraten schien perfekt für mich als Mutter zweier kleiner Kinder mit wenig freier Zeit. In welcher anderen Partei könnte ich mich daheim am Küchentisch übers Internet ins Parteigeschehen einschalten? Ich konnte es kaum abwarten, selbst diese Demokratiesoftware Liquid Feedback zu nutzen, über die ich Beeindruckendes gelesen hatte: Sie sei das „Herz der Piratenutopie“ (Zeit-Magazin), eine Art „Herzschrittmacher“ (Spiegel) für die Partei, ja deren „Kern“ (FAZ).

Am Tag nach meiner offiziellen Registrierung als Mitglied Nr. 39.120 der Piratenpartei erhielt ich eine E-Mail mit dem Zugangsschlüssel. Mein Einstieg in die „Liquid Democracy“, die flüssige Demokratie. Ich ließ alles andere liegen und setzte mich an den Computer, las einmal quer über die Gebrauchsanweisung „Liquid Feedback in drei Minuten“, die ich mit dem Registrierungscode bekommen hatte – und los!

Erwartungsfroh schaute ich mich um. Im Themenfeld Innen- und Rechtspolitik stieß ich an oberster Stelle auf die Initiative „Großkalibrige halbautomatische und automatische Waffen sind kein Sportgerät“. Da brauchte ich nicht mal die Begründung zu lesen. Klick, schon hatte die Initiative meine Unterstützung.

Ich surfte weiter – und begann zu staunen. Die Anti-Großkaliber-Initiative schien in ihrer schlichten Schönheit die Ausnahme zu sein. Vor mir auf dem Monitor reihten sich jetzt Anträge, zu denen ich am liebsten erst mal ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages angefordert hätte.

Sollte ich die „unbeschränkte Einkommensteuerpflicht auch für im Ausland lebende Deutsche“ befürworten? Müsste das Strafgesetzbuch um einen Paragrafen 339a ergänzt werden? Meine Antwort jeweils: keine Ahnung.

Dieses „Computerspiel Politik“, von dem der Spiegel schwärmte, hatte ich mir spaßiger vorgestellt. Vermutlich ging es vielen der gut 9.000 Liquid-Feedback-Teilnehmer aus der Partei ähnlich wie mir. Aber was genau hieß das: Stimmten hier vor allem jene ab, die sich ihrer Inkompetenz nicht bewusst waren? Eine gruselige Vorstellung.

Klar, im Liquid Feedback darf jeder sein Stimmrecht weiterreichen, statt es verfallen zu lassen oder ahnungslos selbst drauf los zu votieren. Diese flexiblen Delegationen sollen die Demokratie erst so richtig flüssig machen.

Auch Marina Weisband, die prominenteste Piratin des Landes, wirbt gerade wieder für diese Idee. Im „Liquid-System“, verspricht sie, könnten Menschen Politik machen, „die inhaltlich fit sind, sich aber gegen den Weg des Berufspolitikers entschieden haben“. Als Beispiel nennt sie den politisch engagierten Lehrer, dem sie für die Bildungspolitik ihre Stimme übertragen könnte.

Klar, dieses Lob des Laientums klingt sympathisch. Aber ist die Realität nicht viele tausendmal komplizierter? Ich halte die politisch interessierten Lehrer in meinem Bekanntenkreis nicht automatisch für die besten Bildungspolitiker. Im Gegenteil.

Als Neupiratin fragte ich mich: Wer dächte wohl wie ich und würde in meinem Sinne entscheiden? Ich wusste wenig über die Ansichten der Mitstreiter. Selbst wenn ich einige Piraten richtig gut gekannt hätte: Könnten sie deshalb eher beurteilen, ob ein neuer Paragraf 339a ins Strafgesetzbuch gehörte?

Ich gestehe es ungern, aber es ist so: Auf nichts hatte ich mich mehr gefreut – und nichts enttäuschte mich mehr als diese angeblich so phänomenale Liquid Democracy. Ich habe an kaum einer Liquid-Feedback-Abstimmung teilgenommen, keine Änderungsvorschläge eingebracht. Wie Tausende andere Piraten habe ich die viel bewunderte Technik boykottiert. Es ergab sich einfach so. Wenn die Liquid Democracy auf Bürger wie mich angewiesen ist, kann man sie wohl vergessen.

Zumal ja Liquid Feedback nicht einmal in der Piratenpartei zur Entscheidungsinstanz erhoben ist. Stattdessen müssen alle Voten auf Parteiversammlungen wiederholt werden.

Ja, die Piraten verstehen sich als Mitmachpartei. Aber was genau meinen sie damit? Spätestens seit meinem zweiten Lokalparteitag konnte ich das Schlagwort kaum noch ernst nehmen. Ich saß in der „Jägerklause“, jener schrammeligen Eckkneipe, in die der Piraten-Hype ein halbes Jahr zuvor sogar einen New-York-Times-Reporter getrieben hatte, musterte die Geweihe und Tierfelle an den dunkelrot getünchten Wänden. Meine Familie war an den Badesee gefahren. Und ich? Wartete.

„Kommen lohnt sich“, hatte es in der Einladungsmail zum Bezirksparteitag geheißen. Doch nun war niemand da. Außer mir und zwei Dutzend anderen. Die Versammlung war nicht beschlussfähig. Konnte das sein? Genau so war es auch vor zwölf Wochen in einem Kreuzberger Sportlerheim gewesen, als der erste Bezirksparteitag des Jahres aus Mangel an Piraten verspätet losging und dann in hitzigen Endlosdebatten mündete.

Damals hatte ich die geringe Beteiligung noch für eine unerfreuliche Ausnahme gehalten. Daran glaubte ich nun nicht mehr. Nötig waren fünf Prozent der inzwischen angeblich fast gut 500 Piraten in unserem Bezirk. Wo steckten die alle?

Draußen vor dem Saal drehte sich ein Pirat einen dicken Joint. Auf Twitter wurde der Ton der Mitgliederakquise schärfer: „Wenn mal noch ein paar in XHain gemeldete Piraten ihren Hintern in die Jägerklause bewegen könnten?“ Nach 1 Stunde und 57 Minuten hatten schließlich 31 Piraten eingecheckt.

„Du bist ja echt noch mal gekommen“, begrüßte mich einer, dem ich beim vorigen Lokalparteitag von meinem Entsetzen über die endlosen Streitereien erzählt hatte. Er stahl sich davon, kaum dass die Beschlussfähigkeit feststand. Hauptsache, die Stimmkarten nicht zurückgeben, wenn du gehst, lautete die Devise. Wer nicht auscheckte, galt als anwesend. Offenbar eine beliebte Mitmachstrategie.

Die Piraten hatten mich mit großen Versprechen gelockt: Egal ob Bundesvorsitzender oder Neupiratin wie ich – jedes Mitglied könne sich vom ersten Tag an in die Parteiarbeit einbringen. Oder, wie es die Partei-Ikone Marina Weisband in ihrer Zeit als Politische Geschäftsführerin formuliert hatte: Bei den Piraten funktioniere Einflussnahme andersrum. „In dieser Partei schläft man sich nach unten.“ Ja, wirklich?

In den Sommerferien nahm ich sie beim Wort. Wenn tatsächlich alle Piraten auf Augenhöhe mitmachen dürften, wieso sollte nicht auch ich als Neuling meine Ideen zum Programm der Piraten für die Bundestagswahl beisteuern? Ich war seit Monaten in Elternzeit und ernüchtert, dass ich in der Krabbelgruppe und auf dem Spielplatz so wenigen Vätern begegnete. Meine Idee: eine Elterngeldreform, die mehr Männer motiviert, eine Auszeit für die Familie zu nehmen.

„Kommen lohnt sich“, hatte es in der Einladung zum Parteitag geheißen. Doch nun war niemand da

Im Garten meiner Eltern setzte ich mich an den Laptop. Der WLAN-Empfang auf der Terrasse war erstaunlich gut. Die Kinder quietschten im Planschbecken. Neben mir prickelte ein Glas kühles Selters. Ein Zitronenfalter flatterte durch die Julihitze. Ich hatte keinen Schimmer, wie so ein Programmantrag aussehen sollte, aber mein Freund sagte: „Schreib halt einfach von den anderen ab. Kopieren gilt doch bei euch als Tugend!“

Und so tippte ich, frei nach einem Mitstreiter: „Es wird beantragt, im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2013 an geeigneter Stelle Folgendes zum Themenfeld Geschlechter- und Familienpolitik einzufügen: …“ Für meinen Geschmack klang der Satz ein bisschen größenwahnsinnig, wie er da auf meinem Laptop über dem ansonsten weißen Bildschirm stand. Aber da musste ich jetzt wohl durch. An einem Mittwochnachmittag am Gartentisch einfach mal ein paar Passagen für ein Bundestagswahlprogramm zu entwerfen – was für ein irres Gefühl.

Gut zwei Stunden später mailte ich, ohne lange nachzudenken, aus dem Garten heraus meinen Programmantrag „Echte Wahlfreiheit für Familien“ herum und bat andere Piraten um ihr Feedback.

Das bekam ich. Sofort schrieb mir ein Unbekannter, der sich Incredibul nannte: Mein Antrag wirke „super“ und komme ihm „zustimmungsfähig“ vor. Allerdings solle ich besser nicht „Mütter“ und „Väter“ schreiben und das Papier so umformulieren, dass es „auch für Queers passt“. Dahinter ein Link.

Ich staunte. Der Unbekannte hatte meinen Antrag neu strukturiert und in ein „Piratenpad“ kopiert – so nennt die Partei virtuelle Notizblöcke, mit deren Hilfe viele Leute gleichzeitig übers Internet ein Dokument bearbeiten können. Ich kannte diesen Incredibul nicht, trotzdem war er mir einfach so mit seinen Ideen zur Seite gesprungen. Wie zuvorkommend! Gab es sie also doch, diese „Schwarmintelligenz“, von der die Partei angeblich so viel profitierte?

Ein paar Tage später stellte ich fest: Auch andere Piraten hatten meinen Entwurf bearbeitet. Doch die neuen Passagen waren noch unfertiger als das, was ich in zwei Stunden zusammengeschrieben hatte. Ja, der Programmantrag existierte eigentlich gar nicht mehr. Meine Mitstreiter hatten ihn in desolatem Zustand in diesem „Piratenpad“ zurückgelassen.

Über den „Kegelklub“, das geschlechterpolitische Netzwerk der Partei, stieß ich auf Lena Rohrbach, 27, eine kluge, zurückhaltende Philosophie-Studentin. Sie bot an, mit mir die zerschossene Initiative fürs Wahlprogramm durchzugehen. Wir verabredeten uns für den kommenden Sonntag. Zu unserem Arbeitstreffen brachte Lena gleich auch Andreas Pittrich mit, Mathematiker, 33 Jahre, den ich aus meiner Basisgruppe kannte. Bei Weinschorle und Ziegenkäsesalat saßen wir im schummrigen Licht der Laternen vor einem Kreuzberger Eckcafé an unseren Laptops und arbeiteten – dank WLAN und „Piratenpad“ – alle gleichzeitig an dem Antrag.

Die Sache ließ sich gut an. Die Atmosphäre war respektvoll und konstruktiv, der Ton locker und herzlich. Kein abschätziges Wort, keine beißende Kritik an dem, was ich in meiner ganzen Ahnungslosigkeit auf die Schnelle im Gartenstuhl zusammengeschrieben hatte.

Lena und Andreas widersprachen so ziemlich allen Piraten-Klischees. Keine Nerds ohne Benehmen, sondern geschliffen auftretende junge Leute in Jeans und Turnschuhen, die zumindest optisch auch bei den Jusos oder bei der Grünen Jugend nicht auffallen würden.

Durch Zufall war ich an zwei Kapazitäten aus der Partei geraten. Lena und Andreas hatten das Kapitel zur Geschlechter- und Familienpolitik im Grundsatzprogramm mit verfasst. Im Gegensatz zu mir waren sie bestens vernetzt. Seit Februar sind beide auch für die Bundestagswahl nominiert. Sie stehen auf den Plätzen drei und fünf der Berliner Landesliste.

Lena und Andreas wollten mir nicht nur Nachhilfe im Antragschreiben geben. Ehe ich mich versah, nahmen sich beide den Antragstext vor. Vokabeln verschwanden und wurden durch andere ersetzt. Aus Müttern und Vätern, Männern und Frauen wurden Partner oder bezugsberechtigte Personen, gerne begleitet von dem Hinweis, alle Regelungen sollten für Menschen jeden Geschlechts gelten. Nicht lange, und die Präambel meines Antrags hatte sich verflüchtigt.

Ich leistete keinen Widerstand. Wieso auch? Es war ja nur die Präambel und die beiden kannten sich zweifellos besser aus als ich. Wenig später fragten Lena und Andreas freundlich wie immer: Warum dürfen eigentlich nur zwei Personen das Elterngeld beziehen? Sie hatten eine Schwachstelle erkannt. Mein Antrag wurde vielen Patchwork-Familien nicht gerecht.

Während ich noch versuchte, mir ein alternatives Elterngeldmodell auszudenken, spielte Andreas als Mathematiker mal eben durch, was es finanziell hieße, wenn sich eine Million Menschen das Elterngeld für ein Kind teilen würden. In Gedanken standen mein halber Freundeskreis, unsere Nachbarn aus dem ersten Stock, zwei Onkel, drei Tanten und diverse Babysitter vor unserer Wohnungstür Schlange, weil sie ein paar Tage bezahlte Elternzeit für meine Tochter nehmen wollten. Ja, so eine Eine-Million-und-eins-köpfige Familie wäre sicher eine innovative Konstellation. Bloß fiel mir nicht mal ein Beispiel mit mehr als drei Elterngeldbeziehern ein.

Der Vater des Kindes, erläuterte Lena geduldig, könne doch auch noch eine Beziehung zu einem anderen Mann unterhalten und die Mutter ebenfalls weitere Partnerinnen oder Partner haben. Andreas rechnete derweil schon am nächsten Elterngeldmodell. Ein paar Minuten später stand es im „Pad“. Sein Vorschlag kam mir clever vor. Er enthielt mein ursprüngliches Ziel, mehr Väter zu einer Auszeit zu motivieren. Andererseits schuf er Möglichkeiten, die Familie auch anders zu leben als in der traditionellen Mama-Papa-Kind-Version.

Es ging auf Mitternacht zu. Wir zahlten. Lena versprach, am nächsten Tag noch eine neue Präambel zu entwerfen. „Danke!“, sagte ich zum Abschied. Lena umarmte mich spontan. Dann trennten sich unsere Wege.

Gedanken schwirrten durch meinen Kopf: Was war denn das jetzt? Hatte ich mich überrumpeln lassen? Auf jeden Fall war dies der produktivste Abend seit meinem Parteieintritt.

Mit diesem Entwurf könnten wir auch die Abstimmung im Liquid Feedback gewinnen. Da war ich mir sicher. Dann hätten wir es schon fast auf die Tagesordnung des Bundesparteitages geschafft.

Es kam anders. Anfang Oktober wurde unser Elterngeldmodell in Liquid Feedback knapp überstimmt. Der Gegenentwurf war allerdings ein echter Hammer. Was der Pirat forderte, fiel noch hinter die CDU-Familienpolitik aus dem Jahr 2007 zurück. Ich hatte mir geschworen: Sollten die Piraten dieses Papier besser finden als unseres, dann hätten wir ein Problem! Und nun?

Gab es sie also doch, diese „Schwarmintelligenz“, von der die Partei angeblich so viel profitierte?

Nie zuvor hatte ich so viel Zeit in ein politisches Projekt investiert. Mindestens zweimal die Woche war ich in Parteiangelegenheiten unterwegs. Vor Mitmach-Angeboten konnte ich mich kaum retten.

Ab und an half ich sogar in dem engen Erdgeschossladen in Berlin-Mitte aus, der den Piraten als Parteizentrale dient. Nicht einmal eine Spülmaschine gab es dort, bevor irgendwann über deren Anschaffung abgestimmt wurde. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter stritten sich stattdessen um Türme dreckiger Kaffeetassen in dem zur Küchenzeile ausgebauten Flur, so wie meine letzte Studenten-WG.

Ich durfte nicht nur den Kühlschrank mit Club-Mate befüllen, Partei-Luftballons auf die Philippinen verschicken und Anrufe entgegennehmen, sondern wurde freundlich angehalten, doch auch die Klos zu schrubben, falls jemand eine Katastrophe hinterlassen hatte. Die Putzkraft komme schließlich nur einmal die Woche, erklärte mir ein Pirat: Für mehr reiche das Geld nicht. Sollte das stimmen, bei einer Partei mit inzwischen 33.000 Mitgliedern? Wie wollte diese Polit-WG im Bundestagswahlkampf mit den Grünen oder der Linkspartei mithalten?

Ich war in eine Partei eingetreten, die sich brüstete, sie wisse besser die Menschen für Politik zu begeistern als die „Etablierten“. Die sich als Befreiungsschlag einer Generation bezeichnete, das System updaten wollte. Die Realität sah anders aus.

Offensichtlich konnten die Piraten nicht mal die eigenen Mitglieder zum Mitmachen motivieren. Was in Talkshows als basisdemokratische Innovation durchgegangen war, erweist sich im Parteialltag als zeitraubend und zermürbend. Über den Weg hin zur Online-Demokratie wird bei den Piraten zwar permanent gestritten, alle wichtigen Entscheidungen fallen jedoch weiter offline – bei langatmigen Parteitreffen, mit Stimmkarten oder Handzeichen. Liquid Feedback, diesem angeblichen „Herzschrittmacher“ ihrer Partei, haben die Piraten bisher nicht mal die Marktzulassung erteilt.

Mit gutem Grund, wie auch ich feststellte. Durch einen kuriosen Zufall war es mir gelungen, mir eine zweite Stimme in der Demokratiesoftware zu besorgen – obwohl ich keine Hackerin bin und von IT-Sicherheitssystemen nicht eine blasse Ahnung habe.

Ich hatte gehofft, in der Piratenpartei mehr Erfindergeist zu treffen als bei SPD und CDU zusammen. Ich hatte ihr tatsächlich zugetraut, unsere Demokratie internetfähig zu machen, das Parteileben aus den Kneipen, Sportlerheimen und Kongresszentren heraus ins Netz zu holen und seines unflexiblen Zeittakts zu entheben.

Erlebt habe ich eine überforderte, verunsicherte und blockierte Partei. Klar, in allen Parteien klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Aber wollten die Piraten es nicht ohne die schönrednerische Verlogenheit der Konkurrenz schaffen?

Mitte Januar bin ich ausgetreten. Der Schritt fiel mir schwerer als vermutet. Ich trug den Brief ein paar Tage mit mir herum, bevor ich ihn abschickte. Es war ja auch unterhaltsam gewesen. Selten hatte ich in kurzer Zeit so viele kluge und eigenwillige Menschen getroffen. Mit Zufallsbekanntschaften aus dem Netz einen Programmantrag zu entwickeln, war eine spannende Sache. Dank der Piraten habe ich heute eine Ahnung, wie die Demokratie im Internet funktionieren könnte – oder auch nicht.

Immerhin, die Partei lässt mir viel Zeit zum Abschiednehmen. Im Liquid Feedback darf ich bis heute mitmachen.

Astrid Geisler, 38, ist Parlamentskorrespondentin der taz. Sie trat 2012 während ihrer Elternzeit in die Piratenpartei ein. Über ihre Erfahrungen schrieb sie ein Buch: „Piratenbraut. Meine Erlebnisse in der wildesten Partei Deutschlands“ (KiWi-Verlag)