piwik no script img

Archiv-Artikel

Lecker’ Hühnchen aus der Notstandszone

Nach dem Vogelgrippe-Ausbruch in der Ukraine will der Präsident „alles zur Eindämmung des Virus“ unternehmen. Doch hat er dabei nicht mit seiner reiselustigen Bevölkerung gerechnet: Hühnchenfleisch ist in der Ukraine als Zugproviant sehr beliebt

AUS SIMFEROPOL UND KIEW NICK REIMER

Gouverneur Potemkin hatte ein glänzende Idee: Bevor 1787 Zarin Katharina II. die Krim bereiste, ließ er entlang ihrer Reiseroute hübsche Dorfattrappen mit glücklichen Menschen errichten. Die Zarin war beeindruckt – ihr Reich schien in bester Ordnung.

Mehr als zweihundert Jahre später zeigt das ukrainische Fernsehen Einsatzkräfte in Vollschutzmontur: Im Nordosten der Krim ist die Vogelgrippe ausgebrochen. Also verschiebt Präsident Wiktor Yschtschenko seine Wahlkampftour mit Exboxer Vitali Klitschko, die ihn eigentlich in die „Zona“ bringen sollte – in die Todeszone von Tschernobyl. Stattdessen reist Yschtschenko nun in die „Zona“ ans Asowsche Meer: In den Krimer Notstandsgebieten – Sowjetsk, Sowjet-Leninsk oder Nekrassiwka – ist die gefährliche Vogelgrippevariante H5N1 nachgewiesen worden, die auch für den Menschen gefährlich werden kann. Über Nacht verendeten 90 Prozent des Federviehbestands jämmerlich. „Und das ist neu“, so Agrarminister Olexandre Baraniwski: „Die Tiere zeigten vorher keinerlei Symptome“. Präsident Yschtschenko zeigt sich entsprechend besorgt, sagt Sätze wie „Wir nehmen die Sorgen der Menschen sehr ernst.“ Oder: „Wir müssen alles tun, um das Virus unter Kontrolle zu bekommen.“

„Alles tun“ geht auf Ukrainisch so: Das Parlament verhängte erstens den Notstand über Teile der autonomen Republik Krim. Zweitens wurden knapp 40.000 Federviecher getötet. Drittens stellt der Präsident 15 Griwna pro getötetes Hühnchen in Aussicht – 2,50 Euro. Viertens darf kein Geflügel die Krim verlassen. Schließlich kündigt Yschtschenko „verstärkte Kontrollen“ an.

Der Zug Simferopol–Kiew: Raisa Andrejewna, eine pensionierte Geschichtslehrerein aus der Krim-Hauptstadt Simferopol, packt ihr Abendbrot aus: Hühnchen mit Weißbrot und Tomate. „Vogelgrippe? Jungchen, wir haben schon Schlimmeres überstanden“, sagt Andrejewna. Möglich, dass sie die Deutschen meint, die einst die Krim gründlichst verwüsteten. (Hitler wollte Südtiroler ansiedeln und per Autobahn ans Reich anbinden.) In der Heldenstadt Sewastopol – mit über 400.000 Einwohnern größte Krim-Metropole – gibt es beispielsweise ganze zehn Gebäude, die älter als 1945 sind. Raisa, hat der Präsident nicht gerade dazu aufgerufen, vogelfrei den Zug zu besteigen? Raisa leckt sich die Fingerkuppen: „Das Hähnchen hier ist von der Nachbarin. Da geht bestimmt nichts schief.“

Schief wird dagegen das offizielle Bild durch Reuters: Bewohner aus der „Zona“ erklärten der Nachrichtenagentur, bereits vor Monaten habe ihr Federvieh an einer „mysteriösen Krankheit“ gelitten. Natürlich sei gesundes Geflügel weiterhin gegessen worden. Jenes aber, das „so seltsam“ ausschaute oder gar gestorben war, habe man entweder auf die örtliche Müllkippe entsorgt oder vergraben. Selten dürfte es den Hunden im Krimer Nordosten besser gegangen sein.

Mit einem Reisigbesen macht die Zugwagenschaffnerin kurz vor Kiew Klarschiff im Abteil. Der Abfall – Raisas Hähnchenknochen und die von einem guten Dutzend anderer – fliegt kurzerhand aus dem Waggon. Papiere, Visa, Fahrkarten – Kontrolleure haben sich auf der Fahrt für so ziemlich alles interessiert, nur nicht für den Brotaufstrich.

Hauptbahnhof Kiew: Den Reisenden wird Hühnchenfleisch als Proviant empfohlen. Raisa Andrejewna wird von der Familie ihres Sohnes abgeholt. Gott sei Dank im Lada: Das Reisegepäck ist schwer – gutes Hühnchen aus der Krimer Heimat ist selbstredend auch dabei. Eine Zeitung vermeldet einen „Vogelgrippe-Verdacht im Donezbecken“. Fünf Züge täglich kommen dort aus Simferopol an. Und Potemkin, einst mächtigster Mann in Russland, wird bis heute von den Historikern unterschätzt.