: Konsens zwischen Arm und Reich?
In der WTO hat jedes Land eine Stimme, zudem sind die armen Staaten in der Mehrheit. Das nützt diesen aber nichts. Denn es gilt das Konsensprinzip
VON NICOLA LIEBERT
Seattle unter Belagerung! So oder ähnlich lauteten die Schlagzeilen, als 1999 die Welthandelsorganisation (WTO) an der Westküste der USA ihre Konferenz abhielt. Bis zu 100.000 Globalisierungskritiker kamen zu den Demos. Als die ersten Schaufensterscheiben splitterten, rief die Stadt den Notstand aus. Ausgangssperren, Tränengas, Schlagstöcke und sogar Gummigeschosse – hässliche Szenen bildeten den Rahmen der Ministerkonferenz.
Auch im Konferenzzentrum ging es alles andere als friedlich zu. Die US-Regierung unter Bill Clinton schlug Mindeststandards für Arbeitnehmerrechte vor, die Europäer wollten besseren Schutz für ihre Auslandsinvestitionen, und dann waren da auch noch die Entwicklungsländer, die eigene Forderungen nach einer Öffnung der Märkte für ihre Agrarerzeugnisse erhoben. „Sie haben uns wie Tiere behandelt“, so beschrieb damals der ägyptische Delegierte den Verhandlungsstil des Nordens. Die Ministerkonferenz von Seattle platzte mit lautem Knall – und damit auch die geplante Freihandelsrunde.
Um nach dem Scheitern der Konferenz überhaupt wieder Schwung in die WTO und die Entwicklungsländer wieder mit an Bord zu bekommen, gaben die Industrieländer den Forderungen aus dem Süden nach, neben den klassischen WTO-Themen – Industriegüter und Dienstleistungen, Investitionen und Patente – auch die Landwirtschaft und andere entwicklungsrelevante Themen zu behandeln. Denn auch wenn der Agrarhandel nur neun Prozent des Welthandels ausmacht und deshalb dem Norden nie sonderlich interessant erschien, jedenfalls solange die eigenen Agrarsubventionen nicht hinterfragt wurden, so lebt doch mindestens die Hälfte aller Menschen in den Entwicklungsländern davon.
2001 begann in Katars Hauptstadt Doha die so genannte Entwicklungsrunde der WTO. „Die wachsenden Chancen und Wohlfahrtsgewinne, die das multilaterale Handelssystem schafft, sollen allen Völkern zugute kommen“, so die Devise, die die Handelsminister in der Erklärung von Doha ausgaben.
Doch schon die nächste Ministerkonferenz 2003 im mexikanischen Cancún scheiterte wieder. Die Entwicklungsländer konnten ihre Interessen in keiner Weise durchsetzen. „Wir diskutieren nur über ihre Themen“, klagte ein Delegierter aus Malawi, „nicht aber über unser Thema: Entwicklung“. Die Entwicklungsländer sahen daher keine andere Möglichkeit, als die Konferenz komplett platzen zu lassen.
Wie konnte es dazu kommen? Immerhin stellen die Entwicklungsländer doch rund drei Viertel der Mitgliedschaft der WTO. Und anders als im Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, wo die reicheren Länder höhere Stimmanteile haben, gilt in der WTO das Prinzip „ein Land – eine Stimme“. Trotzdem ist die WTO eine scheindemokratische Veranstaltung. Sie arbeitet streng nach dem Konsensprinzip. Und das heißt, es kommt in der WTO nie zu irgendwelchen Abstimmungen, bei denen die Entwicklungsländer ihre Mehrheit nutzen könnten. Vielmehr basieren die Verhandlungen auf Druck und Kuhhandel, auf exklusiven Treffen und Absprachen hinter verschlossenen Türen – so lange, bis alle Widerspenstigen entweder gekauft oder mundtot gemacht wurden. Wie konkret Druck ausgeübt wird, dringt nur gelegentlich an die Öffentlichkeit. So soll zum Beispiel die US-Regierung gegenüber der kenianischen Regierung angedeutet haben, sie werde einen dringend benötigten IWF-Kredit blockieren, wenn Kenia der einflussreichen Entwicklungsländergruppe G 20 beitritt.
Seit Cancún – so viel haben die Entwicklungsländer erreicht – wird nun tatsächlich ernsthaft über die Agrarfrage geredet. Denn ohne Einigung in dieser Frage wird sich auch bei den Themen nichts bewegen, die den Industrieländern am Herzen liegen, bei den Industriegütern und Dienstleistungen. Im vergangenen Sommer wurde daher ein Rahmen für die künftigen Verhandlungen vereinbart. Es geht insbesondere um Subventionsabbau und Öffnung der Märkte des Nordens für die Agrarprodukte des Südens. Doch bis heute gelang es nicht, den Rahmen mit irgendwelchen Inhalten zu füllen.
Auch in Hongkong geht es jetzt nur mehr um eine Grundlage, auf der nächstes Jahr weiterverhandelt werden kann. „Wenn wir ohne Zusammenbruch durch die Konferenz kommen, wird das schon als Erfolg zu betrachten sein“, sagte EU-Handelskommissar Mandelson unlängst bei einem Besuch in Berlin.