american pie
: Der Gute-Nacht-Geschichten-Onkel

Seattles Trainer Bob Weiss lässt seiner Mannschaft viele Freiheiten. Die dankt es ihm mit zweifelhaftem Einsatz

Die zweite Halbzeit war noch keine fünf Minuten alt, da wurde es Bob Weiss dann doch zu bunt. Seine Stammformation hatte ein bis dahin enges Spiel innerhalb von Sekunden aus der Hand gegeben und sich einen 14-Punkte-Rückstand eingehandelt, da bat der Trainer der Seattle SuperSonics zur Auszeit. Nach der Unterbrechung gingen fünf andere Basketballer aufs Feld, darunter Spieler, die gewöhnlich kaum zum Einsatz kommen. Der Headcoach hatte ein Machtwort gesprochen. Doch das verhallte weitgehend ungehört. Die Ersatztruppe zeigte zwar etwas mehr Engagement als die etablierten Akteure, ließ aber zu, dass der Vorsprung des Gegners stetig anwuchs. Nur wenige Spielzüge später hatten die Sacramento Kings ihr Gastspiel in Seattle vorzeitig entschieden.

Die Kritiker von Weiss rieben sich derweil die Hände. Der freundliche ältere Herr, dessen runde Halbglatze von ergrautem Haar umkränzt wird, gilt der Öffentlichkeit als zu weich und nachsichtig. Und tatsächlich: Als das sonst eher träge Publikum begann unruhig zu werden, schickte der wankelmütige Basketballprofessor schnell wieder seine Stars auf den Parkettboden der Key Arena. Der Erfolg mochte sich trotzdem nicht einstellen: Am Ende stand eine 104:123-Niederlage gegen eines der Kellerkinder der NBA. Die SuperSonics sind, nachdem sie im letzten Jahr überraschend das Viertelfinale erreicht hatten, die große Enttäuschung der diesjährigen, noch recht jungen NBA-Saison.

Seit die Klubleitung den erfolgreichen und allseits beliebten Nate McMillan zu einem besser bezahlten Posten nach Portland ziehen ließ und Weiss vom Assistenten zum Chefcoach beförderte, will die Kritik an dem 63-jährigen nicht abreißen. Selbst innerhalb des Teams scheint der Chef, den man sich selbst nach den zuletzt nicht seltenen deftigen Niederlagen gut als Gute-Nacht-Geschichten-Onkel vorstellen kann, umstritten: „Wir spielen nicht zusammen“, ließ sich der serbische Flügelspieler Vladimir Radmanovic vernehmen, „bei Nate wusste man, dass man für Fehler Konsequenzen zu befürchten hatte. Weiche Trainer aber geben jedem immer wieder eine zweite Chance.“ Radmanovic nannte seinen Headcoach nicht beim Namen, aber jeder durfte wissen, wer gemeint war.

„Früher war der Stil hier sehr aggressiv“, klagte selbst der als diplomatisch bekannte Star des Teams, Shooting Guard Ray Allen, „jetzt geht es sehr entspannt zu. Jeder Spieler schätzt Disziplin, das könnt ihr mir glauben oder nicht.“ Tatsächlich hat sich die Öffentlichkeit angewöhnt, eben das nicht zu glauben. NBA-Profis, nicht nur die in Seattle, gelten allgemein als verwöhnt und das Publikum wendet sich zunehmend den mit wesentlich mehr Leidenschaft agierenden College-Mannschaften zu. Der mündige Profi scheint auch in den USA Mangelware, mit intensiver Verteidigungsarbeit wird in der NBA selten vor dem letzten Viertel begonnen. Die Sonics kamen gegen die Kings, die mit einer fünf Spiele währenden Niederlagenserie nach Seattle angereist waren, die ersten acht Spielminuten gar ohne ein einziges Foul aus und erlaubten dem Gegner eine traumhafte Trefferquote von 58 Prozent. Weiss, der seit drei Jahrzehnten in verschiedenen Positionen in der NBA trainiert, lässt seiner Mannschaft vergleichsweise viele Freiheiten auf dem Feld. Die lohnt es ihm mit eher zweifelhaftem Einsatzwillen. So wird nun bereits seit Wochen über die Ablösung des Trainers spekuliert.

In der Umkleidekabine, wo, wie in allen amerikanischen Profi-Ligen üblich, die Pressehorde auf der Suche nach druckbaren Zitaten ist, herrscht nach der Pleite gegen Sacramento zerknirschte Stimmung. Die Stars des Teams verkriechen sich so lange, bis der Reporter des örtliches Fernsehsenders vermutet, Allen und seine Kollegen versteckten sich, weil sie keine O-Töne für seine Live-Sendung liefern wollen. Der große Rest des Teams macht sich so schnell wie möglich davon. Als Allen schließlich spricht, wählt er seine Worte mit Bedacht: er spricht von „Panik“, in die er nicht zu verfallen gedenke, von „fehlender Konzentration“ und von „mehr Leidenschaft in der Defensive“, die nötig wäre – wohlwissend, dass ihn eine falsche Äußerung schnell zum Königsmörder mutieren lassen könnte. Denn der wenig gelittene Trainer verdient nur einen Bruchteil des Gehaltes, das jemand wie Allen erhält, und erscheint allen Beteiligten daher als leichter austauschbar. So ist es denn auch gar nicht nötig, dass Allen die bizarre Wechseltaktik seines Trainer direkt kritisiert. Nein, als Beleidigung habe er das nicht aufgefasst, aber offensichtlich habe die Maßnahme ja „auch nicht funktioniert“. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde zu fürchten. THOMAS WINKLER