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Archiv-Artikel

Norwegens rot-grüne Regierung rasiert Geschichtsunterricht

Die Unterrichtsreform in dem skandinavischen Land ist radikal: Mit dem vorkolonialen Afrika fallen auch der 2. Weltkrieg, die Russische Revolution und der Gulag unter den Tisch

Der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, die Russische Revolution, der Gulag – all das soll ab kommendem Schuljahr in Norwegen nicht mehr zum obligatorischen Unterrichtspensum im Fach Geschichte gehören. So will es das Schulministerium, das mit dem Wechsel zu einer rot-grünen Regierung in Oslo unter die Leitung eines Ministers aus der Sozialistischen Linkspartei kam. Dieser, Øystein Djupedal, hatte als Erstes sein Ressort demonstrativ zu einem „Wissensministerium“ umbenannt.

Djupedal will zum Beispiel das gemeinsame Gebet beim schulischen Mittagstisch abschaffen. Die christlich geführte Vorgängerregierung in Oslo hatte Ermahnungen sogar der UN-Menschenrechtskommission getrotzt, diese Tradition abzuschaffen. Djupedal zielte – angesichts eines in Norwegen noch sehr stark verankerten religiösen Erbes – vorsichtig nur auf staatliche Schulen und wollte Privatschulen die Handhabung der Gebetsfrage freistellen. Dennoch gab es einen christlichen Proteststurm. Täglich trudeln neue Unterschriftenlisten im Ministerium ein.

Dort aber hat man ganz andere Sorgen, seit der Entwurf einer Lehrplanreform öffentlich gemacht wurde. Sie rief als Erstes Deutsch-, Französisch- und SpanischlehrerInnen auf den Plan, weil sie die Bedeutung ihres Fachs unzulässig gemindert sahen. Die zweite Fremdsprache soll nämlich zur Disposition gestellt werden können, die SchülerInnen stattdessen bei Bedarf lieber ihre Schwächen in Norwegisch oder Englisch ausmerzen oder die Sprache der eigenen Sami-Minderheit lernen dürfen. Und dann kamen die 41 neuen Zielsetzungen des Geschichtsunterrichts.

Hinter der im Prinzip kein dummer Gedanke steckt. Nämlich die Erkenntnis, dass es an der Zeit sein könnte, Themen wie der Geschichte Chinas, der Afrikas in vorkolonialer Zeit, der der Sami oder der Umweltproblematik, die unsere Konsumgewohnheiten so mit sich bringen, breiteren Platz einzuräumen. Man wolle mit dieser Reform dafür sorgen, dass „Schüler und Lehrlinge besser gerüstet sind für die Herausforderungen der modernen Wissensgesellschaft“, begründete der Wissensminister die Reform. Aber muss man dafür gleich Kommunismus, Faschismus, den Kalten Krieg, die EU und die Entwicklung der Vereinten Nationen ersatzlos streichen? Und das zu einer Zeit, in der, wie Untersuchungen gerade zeigten, ein immer größerer Anteil norwegischer SchülerInnen den Lügen der Holocaust-Leugner aufsitzt und nicht glaubt, dass es die Ausrottung der Juden überhaupt gab?

Wissensminister Djupedal zeigte sich kritikfähig: „Ein Großteil der vorgetragenen Bedenken sind relevant“, versprach er jetzt neue Überlegungen. Eigentlich hätte auch die eigene Familiengeschichte des 45-Jährigen für diese Erkenntnis reichen müssen. Sein Vater Reidar saß im KZ Buchenwald und überlebte nur, weil er kurz vor Kriegsende noch Platz in einem der „Weißen Busse“ fand. REINHARD WOLFF