: Schwere Zeiten
Den Amerikanern ist wirklich alles zuzutrauen, selbst in Berlin-Neukölln ist man vor ihnen nicht mehr sicher. Eine vorsichtige Erregung
Am liebsten würde ich einfach nur im Bett liegen bleiben. Draußen ist es dunkel und gefährlich. Man kann jederzeit von der Straße weg entführt werden. Unten sitzt überall die CIA – im Getränkespätkauf, beim türkischen Krimskramshändler und in der Bäckerei Wulff. „Wulff“ – der Name sagt ja wohl alles. Ich will sowieso niemanden sehen. Im Bett fühle ich mich sicher, da kann mir keiner wehtun.
Oder doch? Was ist, wenn jetzt die Amerikaner kommen und mich mit Bombenflugzeugen und Kanonen beschießen? Das tun die ja gerne mal, die Cowboys – ballern, ballern, ballern. Vielleicht stehe ich doch besser auf.
Ich muss ohnehin aufstehen. Es klingelt. Ständig klingelt’s an der Haustür. Wenn die Klingel funktioniert, gibt es immerhin noch Strom. Ich frage in die Gegensprechanlage, wer da ist. Niemand meldet sich. Aus dem Fenster sehe ich gerade noch ein paar kichernde Gestalten wegrennen: die Amerikaner …
Dann gehe ich eben einkaufen, falls mich dabei nicht die Amerikaner internieren – denen ist ja alles zuzutrauen. Wie zum Beweis steht vor dem Blumenladen neben Reichelt ein Plastikweihnachtsmann und grölt mit seiner Plastikstimme „Jingle Bells“. Dafür ist unser Herr Jesus nicht gestorben! Die Amerikaner mögen das ja, für sie müsste die ganze Welt aus Plastik sein. Wenn sie nicht gerade foltern und bomben, klingeln sie an Haustüren, spucken auf den Bahnsteig oder verursachen Auffahrunfälle. Auch King Kong ist im Grunde ein typischer Amerikaner. Die CIA verkauft vergammelte Folteropfer bei McDonald’s, das FBI hat hier jahrelang sämtliche Münzfernsprecher mit Kaugummi verklebt, und Mitarbeiter des Pentagons pinkeln am Herrmannplatz in die Hauseingänge. Die Amerikaner waren schuld am Zweiten Weltkrieg – sie haben sich so lange aus allem rausgehalten, bis Hitler praktisch keine andere Wahl mehr hatte. Nicht zu vergessen, natürlich, die Indianer!
Auch unsere herbstlichen Sturmtiefs sind letztlich die Ausläufer amerikanischer Hurrikane. Der Amerikaner hat es ja nicht so mit der Umwelt, Plastik ist ihm lieber. „Fuckin’ bullshit“, hat der Amerikaner gesagt, das Kioto-Protokoll zerknüllt und einfach in irgendeinen Hauseingang geschmissen – kein Wunder, dass hier alles voller Müll ist. Statt Natur existieren für den Amerikaner nur „targets“ – „Ziele“, das sind Berge, Bäume und Blumen, oder „moving targets“–„bewegliche Ziele“, das sind Tiere, Verbrecher und Indianer. Schon dreijährige Amerikaner lernen beim Spazierenfahren – nicht -gehen, das würde der Amerikaner niemals tun! – mit einer 48er Smith & Wesson den Blumen die Köpfe und den Elchen das Geweih runterzupusten.
Sie sind Cowboys, die auf ihren späteren Job als Herrscher der Welt vorbereitet werden. Auch das ist nur ein Job, alles nur ein Job, der, verdammt noch mal, erledigt werden muss; erledigt werden wie die gottverdammte Natur, die doch nur dazu da ist, um Terroristen und Indianern als Deckung zu dienen: Ab und zu braucht Charlie eben einen Kübel Agent Orange auf den Kopf, damit er aufwacht! „Wird Zeit, dass die schwulen Europäer das endlich kapieren“, sorgt sich der Amerikaner, und wenn nicht, dann leitet er einfach den Golfstrom um. Das kann er, er kann nämlich alles. Ohne Golfstrom gehen bei uns die Lichter aus. Es wird bitterkalt, und spätestens wenn im Juli hungrige Eisbären unten an der Haustür klingeln und wir das nicht mal mitbekommen, weil wir ja keinen Strom mehr haben, richten wir in jeder Schlecker-Filiale bereitwillig Folterzentren ein.
Bei Reichelt am Neuköllner Hermannplatz, in einem Einkaufscenter namens „Neue Welt“, steht vor mir an der Wursttheke eine Frau. Ich habe es eilig und sie möchte 60 Gramm Serano-Schinken. 60 Gramm! Das ist doch reine Schikane! Blitzschnell kombiniere ich: Neue Welt; reine Schikane – das ist garantiert eine Amerikanerin! „Gehen Sie doch dann einkaufen, wenn Sie genug Hunger haben – so belästigen Sie hier bloß die Leute, verhärmte Brillenschlange“, möchte ich zu ihr sagen, oder: „Wenn Sie sich keinen Serano-Schinken leisten können, dann nehmen Sie halt Schinkenspeck.“ Ich traue mich aber nicht. Ich will keine Spritze.
„Jingle Bells“ schnarrt draußen vor der Tür noch immer wie zum Hohn und ohne Unterlass der Weihnachtsmann. Oh, wie gerne würde ich ihm jetzt in seine Plastikfresse hauen, aber das lasse ich schön bleiben: Ich habe keine Lust, am helllichten Tag in einen schmutzigen Hauseingang gezogen und mit Elektroden am Arsch an den Arsch der Welt entführt zu werden. Wie zu Zeiten der hessischen Landesfürsten von den eigenen Leuten an die Amerikaner verschachert – für einen lausigen Gammelburger, eine kleine Coke und eine mittelgroße Schweinerei. Als Menü? Als Menü. Gerade so nah am Flughafen Tempelhof bin ich da lieber doppelt vorsichtig.
ULI HANNEMANN