: Zum Sterben schön
SIRENEN Bei Homer wurden sie eingeführt, diese Zwitterwesen aus Vogel und Frau. Was ist aus ihnen geworden?
VON KATRIN GOTTSCHALK
B einahe wäre es eine Sirene geworden. Kein Echo. Doch Oliver Renelt, Designer der Echo-Trophäe, war dann doch der Meinung, dass der Titel zu brutal sei für den deutschen Musikpreis. Wird mit diesem doch kommerzieller Gesangserfolg ausgezeichnet – und damit Gefälligkeit. Da wären die mythischen Zwitterwesen aus Vogel und Frau, die Seemänner mit ihrem Gesang betören, um diese dann zu Tode kommen zu lassen, ein falsches Zeichen gewesen.
Und trotzdem: Das Bild von geradezu hypnotisierend schön singenden Sirenen taucht immer wieder auf. Madonna sei eine. Die bermudische Popsängerin Heather Nova benannte ein Album nach ihnen. Als Schurkin geistert die Sirene auch durch die „Batman“-Serie Mitte der sechziger Jahre. Sie versucht darin, mit ihrem schrillen Gesang die Macht über Gotham zu erlangen.
Die Literaturwissenschaftlerin Helga Arend widmete sich vor ein paar Jahren in einem Aufsatz der „Frau als Vogel“ und befand: „Vögel stehen für den Bereich, der jenseits der erfahrbaren Realität liegt. So wie der Vogel diese Fremdheit versinnbildlicht, steht die Frau für das Andere schlechthin.“ Das Andere ist faszinierend, gleichzeitig bedrohlich. Andere Vogelfrauen wie die Harpyien, die Druden oder auch die Walküren sind auch nicht gerade die netten Frauen von nebenan.
Gefährlich sind die Sirenen bei Homer, weil sie Persephone dienen, der Göttin der Unterwelt. Unterwelt und Unterbewusstes, das klingt ähnlich. Laut Horkheimer und Adorno sind die Frauen in dieser Geschichte deshalb schlecht, weil sie mit ihrer Weiblichkeit die Seefahrer anregen, ihrer eigenen „inneren Weiblichkeit“ nachzugehen. Würden sie dies tun, wäre das Ende tödlich. Sirenen lassen die Männer ihre Heimat und das Ziel ihrer Reise vergessen, sie werden irrational und schwach – weiblich also.
Die Frau als Gefahr
Spätestens seit der Aufklärung gilt der Mann als Inbegriff von Kultur und Geistigkeit, während die Frau für Natur und Körperlichkeit steht. In ihrer „Dialektik der Aufklärung“ beschreiben Adorno und Horkheimer, unter anderem am Beispiel der Sirenen, die Entstehung unserer modernen Gesellschaft durch die Abgrenzung zur als bedrohlich beschriebenen Natur. Homers Odysseus wird zum Inbegriff des bürgerlichen Individuums – das sich gegen die Natur behauptet. Und die Natur, die das Projekt der Aufklärung gefährdet? Das sind natürlich die betörenden Frauen im Vogelgewand.
Ähnlich manipulativ und letal ist auch der Gesang der Loreley bei Heinrich Heine: „Ich glaube, die Wellen verschlingen / Am Ende Schiffer und Kahn / Und das hat mit ihrem Singen / Die Lore-Ley getan.“ Von der „Sirene des Rheins“ und denen aus der Odyssee ist nicht mehr viel übrig geblieben. Im Duden steht sie als „schöne, verführerische Frau“ – ihrer tödlichen Gesangseinlage entledigt. Und sie ist zum schrillen Warnsignal verkommen. Der Sirenenruf war ein Lockruf und zog die Seemänner direkt an die Quelle der Gefahr. Die Warnsirene klingt unangenehm und soll die Menschen vor der Gefahr schützen, indem sie darauf aufmerksam macht. Das Regellose wurde der Sirene genommen, ein erschreckender Ton, der dazu aufruft, etwas wieder unter Kontrolle zu bringen, ist geblieben.
Ein Aspekt, der definitiv die Jahrtausende überlebt hat, ist die Anziehungskraft der Sirenen. Während die Seemänner in den griechischen Mythen allein vom Zuhören Lust empfanden, wird der Sex dieser Tage über die Kleidung und eindeutig zweideutige Tanzeinlagen hergestellt. Auf den Musikbühnen dieser Welt haben noch immer die Frauen die kürzesten Hosen an. Am besten werden die Geschlechterklischees in Drag Shows deutlich. Während die Kings Anzug und Krawatte tragen, haben die Queens kaum etwas an, bedecken mit ihrer Federboa mitunter nur das Nötigste. Die Federboa wurde seit den 1920ern als eine Art Sex-Utensil von Tänzerinnen verwendet, die diese zwischen ihren Beinen hin und her bewegten. So wurde sie, übertragen gedacht, Teil einer Inszenierung von Weiblichkeit.
Heute sind Federn und kleine Vögelchen eher ein träumerisches als sexuelles Accessoire, besonders für eine ganz harmlose Gruppe der Vogelfrauen: die Goldkehlchen. Sie haben zumeist eine angenehme Stimme, sind aber alles andere als bedrohlich, eine Art domestizierte Sirene. Auf der Bühne tragen sie auch mal ein sexy Dress, aber immer noch im Rahmen des guten Tons. Die Sängerin Taylor Swift ist so eine, als „Country-Küken“ wurde sie auch schon bezeichnet. Kleiner, niedlicher, kontrollierbarer geht es bald nicht mehr. Auch „My heart will go on“-Céline Dion oder Lana Del Rey reihen sich in diese Riege ein. Letztere, die erst letzte Woche zwei der Echo-Preise gewann, toupiert ihre Haare auch ab und an zur sogenannten Vogelnest-Frisur auf und zeigt sich auf dem Cover der Vogue ganz zahm mit kleinen Vögelchen auf der Hand. Diese Frauen stellen keine Bedrohung für die Männer dar, sind eher deren Spielball und recht gefällig. Sie trällern ein paar Lieder über Liebe und tun keinem weh. Wer seine Liebste Vögelchen, Täubchen oder Küken nennt, hat vermutlich eine flatterhafte, aber nicht sonderlich widerständige Partnerin. Auch Ausdrücke wie „bei dir piept’s wohl“ oder „du hast einen Vogel“ lassen schließlich erkennen, was der Volksmund vom Intelligenzquotienten des Vogels hält.
Einen besonderen Platz hat Edith Piaf in der Geschichte der Vogelfrauen. Ihr Spitzname war zwar „der kleine Spatz“, aber das hatte in erster Linie mit ihrem Nachnamen zu tun, dem französischen Wort für Spatz. Sie gehört eher in die Reihe der Sirenen. Der Popsirenen zumindest. Das sind Frauen, die etwas störrischer sind als die Singvögelchen. Auch die frühe Madonna ist widerspenstig gewesen. In der New York Times wird sie Mitte der Achtziger als Sirene eingeführt, das war die Zeit, in der sie „Like a Virgin“ veröffentlichte und damit einigen konservativen Mitmenschen auf den Schlips trat. Ihre Stimme war nicht wirklich sanft und schön, sondern etwas schrill und schräg. Ähnlich ist es mit den „Pop-Sirenen“ Lady Gaga oder Björk oder der „Punk-Sirene“ Nina Hagen. Eine selbstbestimmte Musikerin ist der Sirene näher als dem Goldkehlchen.
Brutal, nicht wohlgefällig
Die echten Sirenen, die sind allerdings verschwunden. Es gibt Frauen wie die US-amerikanischen Künstlerinnen Diamanda Galas und Meredith Monk, die mit ihrer Stimme in sirenenartige Gesänge verfallen, die von ganz tief nach ganz hoch wechseln, die radikal sind in ihrer stimmlichen Entgrenzung, brutal auch, dabei naturnah, nur eben nicht wohlgefällig. Doch wer kennt diese Frauen überhaupt und wer lässt sich von ihnen betören? Odysseus hatte die Vogelfrauen damals überlistet, indem er seiner Mannschaft mit Wachs die Ohren verstopfte und sich selbst an einen Mast binden ließ. Die bürgerliche Ordnung hat gewonnen. Der weiblichen Sexualität wurde ihre Bedrohlichkeit genommen. Stattdessen können wir sie nun gefahrlos konsumieren.