: „Eine gesetzgeberische Paradoxie“
ALKOHOLKONSUM Mehr Jugendliche als je zuvor werden derzeit mit Alkoholvergiftungen in Krankenhäusern behandelt. Der Hamburger Suchtexperte Rainer Thomasius über die Ursachen und mögliche Gegenmaßnahmen
■ leitet das Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Hamburger Klinikum UKE. Foto: privat
INTERVIEW LISA FRANKENBERGER
taz: Herr Thomasius, ist das Trinkverhalten der Jugendlichen in den vergangenen Jahren exzessiver geworden?
Rainer Thomasius: Der Alkoholkonsum ist in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre zurückgegangen. Aber es gibt einige Jugendliche, die sehr intensive, riskante und problematische Konsummuster aufweisen. Sie trinken gezielt Unmengen von Alkohol – das ist in das Bewusstsein der Öffentlichkeit geraten. Es gibt eine Zunahme der krankenhauspflichtigen Behandlungen betrunkener Jugendlicher.
Was sind die Gründe für diesen Trend?
Etwa 50 Prozent der 12-Jährigen weisen Alkoholerfahrung auf. Insofern haben wir ein Abrutschen der Altersgrenze nach unten und eine Zunahme riskanter Konsummuster. Es gibt aber ein ganzes Ursachenbündel, das man verantwortlich machen muss. Ein Drittel der Jugendlichen etwa, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, ist auffällig. Sie weisen Entwicklungsauffälligkeiten, Depressivität und Selbstunsicherheit auf. Oft haben sie einen schlechteren Bildungskontext oder kommen aus Einelternfamilien.
Hat sich das Einstiegsalter so dramatisch verringert, weil die Pubertät heute früher beginnt?
Ja, aber auch die Eltern sind verunsichert, ihre Kinder in einem verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol anzuleiten. Sie fragen sich, wie sie das eigene Kind vor Alkoholmissbrauch schützen und wie man damit umgeht, wenn es betrunken nach Hause kommt. Es gibt eine sehr starke Orientierungslosigkeit der Eltern, die es früher so nicht gab. Vor 20 Jahren war es selbstverständlich, dass der erste Schluck Alkohol mit der Konfirmation zu sich genommen wird. Diese Tradition gibt es nicht mehr.
Was bringen Verbote, Alkohol ab 18 und höhere Steuern?
Studien zeigen, dass über Preisgestaltung und gesetzliche Vorgaben, über Verkaufsregulierungen in der Tat am meisten erreicht werden kann in der Alkoholprävention.
Reichen diese Verbote denn aus, um dem Konsum Einhalt zu gebieten?
Alkohol ist für Jugendliche europaweit nirgendwo so günstig zu erhalten wie in Deutschland. Gesetzliche Vorschriften alleine reichen da nicht aus. Wir brauchen stattdessen einen guten Mix aus Verhaltensprävention und gesetzgeberischen Maßnahmen. Mit dem Tabakrauchen sind wir beispielsweise viel konsequenter umgegangen. Das versteht kein Jugendlicher, weil die Auswirkungen des Tabakkonsums sich erst ab einem Alter von etwa 50 Jahren zeigen. Die Auswirkungen des Alkohols erleben die Jugendlichen allerdings alltäglich. Das ist eine gesetzgeberische Paradoxie.
Müsste das Mindestalter für Alkohol also angehoben werden?
Ich habe eine persönliche Position, die abweicht von anderen Protagonisten der Suchtprävention. Ich bin für eine Anhebung der Altersgrenze auf 18 Jahre. Ich bin überhaupt nicht dagegen, dass Jugendliche mit 16 Jahren Alkohol konsumieren. Sie sollten ihn nur nicht selber beziehen können, sondern das sollte in Elternbegleitung stattfinden.
Sollen sich Eltern gezielt mit ihren Kindern zusammensetzen und trinken?
Eltern dürfen das Heranführen an den Konsum nicht der gleichaltrigen Gruppe überlassen. Sie sollten schon im häuslichen Kontext, zu einer besonderen Feierlichkeit gemeinsam mit dem Kind das erste Glas Alkohol probieren und dabei hervorheben, dass es ein besonderer Anlass ist und Alkohol auch nur zu besonderen Anlässen getrunken werden sollte.