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Archiv-Artikel

„Alle hatten Frust und Angst“

TAGWERK Über Nacht wurde Thorsten Schäfer-Gümbel zum Spitzenkandidaten der hessischen SPD. Er verlor. Dann stieg er auf. Und da oben ist es ganz anders als im richtigen Leben

Schäfer-Gümbels Weg

1 Ypsilantis Sieg: Bei der Hessenwahl im Januar 2008 gewinnt die SPD mit Andrea Ypsilanti 7,6 Prozentpunkte dazu. Zur Ablösung des CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch reicht es aber nicht – außer in Koalition mit der Linkspartei. Genau diese hat die SPD aber vor der Wahl ausgeschlossen. Dennoch entscheidet sie: Ypsilanti soll sich von der knappen rot-rot-grünen Mehrheit zur Ministerpräsidentin wählen lassen.

2 Ypsilantis Scheitern: Am 3. November 2008 verkünden drei SPD-Abgeordnete in letzter Minute, dass sie Ypsilantis Regierungsbündnis doch nicht mittragen. Neuwahlen werden angesetzt. Die SPD nominiert überraschend den unbekannten, 39 Jahre alten Thorsten Schäfer-Gümbel als neuen Spitzenkandidaten. Er startet daraufhin einen Notwahlkampf, in dem er als „Pümpel“ verhöhnt wird. Auch seine außergewöhnlich starke Brille bietet vielen Anlass, sich über ihn lustig zu machen.

3 Vom Newcomer zum Chef: Bei der Hessenwahl am 18. Januar 2009 rutscht die SPD auf 23,7 Prozent ab. Roland Koch kann trotz eines schwachen Ergebnisses mit Hilfe der FDP weitermachen. Ypsilanti tritt als Vorsitzende des Landesverbandes und der Landtagsfraktion ab. Schäfer-Gümbel hat sich im Wahlkampf Respekt erarbeitet. Keine vier Monate vorher noch ein totaler No-Name, wird er Chef der Hessen-SPD.

4 Ein Jahr danach: Die SPD steht nun im Bundestag so schlecht da wie in Hessen – 23 Prozent und Opposition. Aber Schäfer-Gümbel ist inzwischen ins Parteipräsidium aufgerückt. Vor der Klausur der SPD-Führung an diesem Sonntag in Berlin hat er seinen ersten Vorstoß lanciert. Er will, dass die SPD ihre Position zu Schröders Hartz-Reformen systematisch umkrempelt: Arbeitslosengeld I soll in bestimmten Fällen länger laufen; langjährige Arbeitslose sollen öffentliche Jobs kriegen.

INTERVIEW GEORG LÖWISCH FOTOS BERND HARTUNG

taz: Herr Schäfer-Gümbel, vor einem Jahr scheiterten Sie bei der Hessen-Wahl – und gingen daran, die SPD zu retten. Wie waren die zwölf Monate?

Thorsten Schäfer-Gümbel: Ich habe jetzt in meinem Tagebuch nachgelesen und gedacht: wow, was ein Jahr! Dass wir überlebt haben, ist echt eine kleine Sensation. Es gab viele in der politischen Konkurrenz, die gehofft hatten, dass wir uns vollständig zerlegen.

Die SPD?

Die SPD insgesamt. Und dass ich auch als Person dabei kaputtgehe. Die Aufgabe und die Erwartungshaltung, mit der ich konfrontiert bin, die ist bis heute extrem hoch. Alle Rahmenbedingungen sind sehr schwierig. Wir haben weniger finanzielle Möglichkeiten, die Mitglieder sind müde, teils waren die Abgeordneten noch müder. Die letzten zwei Jahre sind eben an niemandem spurlos vorübergegangen.

Wann haben Sie angefangen, Tagebuch zu führen?

Im November 2008 hat sich mein Leben verändert. Ich sollte die hessische SPD in den Landtagswahlkampf führen. Mir war klar, dass ich so etwas nie mehr erleben würde. Diese Zeit wollte ich nicht vergessen.

Sie mussten in der Zeit vor der Landtagswahl am 18. Januar versuchen, nach dem Platzen der Regierungspläne von Andrea Ypsilanti die SPD am Leben zu erhalten. Wann haben Sie da geschrieben?

Wenn mich etwas besonders bewegt hat oder einfach wenn ich Lust dazu hatte. Das kann mal eine Bemerkung unterwegs gewesen sein, wenn ich ins Auto gesprungen und zum nächsten Termin gefahren bin, oder nachts zu Hause, kurz bevor ich ins Bett ging. Ich habe auf Zettel geschrieben oder mal auf eine Papierserviette. Es ist eher so eine Loseblattsammlung geworden. Nur vier, fünf, sechs Sätze. Ich mache das heute immer noch.

Und dafür haben Sie Zeit? Sie haben eine Frau, drei Kinder, einen vollen Tag zwischen Gießen, Wiesbaden und Berlin.

Ich schreibe ja nicht gezwungen. Rein nach Lust und Laune. Oder auch nach Wut und Zorn.

Zur Vorbereitung dieses Interviews haben Sie mir Auszüge aus dem Tagebuch zur Verfügung gestellt. Warum veröffentlichen Sie Ihre Aufzeichnungen nicht?

Das Tagebuch gibt an einigen Stellen natürlich einen sehr tiefen Einblick in Situationen, meine Stimmungslage und vieles andere mehr. Dieser Einblick ginge mir entschieden zu weit, es ist eben ein Tagebuch und kein Blog.

Im Eintrag vom 2. Februar schreiben Sie: „Verhärtungen sind immer noch groß, im Kopf gehen die meisten schon mit, aber sie vertrauen sich noch nicht wieder. Kein Wunder nach der Geisterfahrt.“ Wen meinen Sie mit „Geisterfahrt“: die Mehrheit der Hessen-SPD oder die Abweichler, die Ypsilanti nicht wählen wollten?

Letztere, weil mit der Geisterfahrt zum Beispiel das Verhalten und die Zusagen in Sitzungen oder die geheimen Abstimmungen gemeint sind. Vieles wird ja heute so dargestellt, dass ich mich frage, ob ich in derselben Veranstaltung war.

Sie waren vorher einfacher Abgeordneter. Plötzlich standen Sie im Scheinwerferlicht und nun sitzen Sie sogar im SPD-Präsidium. Wie ist es da oben?

Anders. Das Zusammenwirken von Medien und Politik führt zum Beispiel zu einer Sprache ohne Ecken und Kanten. Außerdem ist man rund um die Uhr gefordert, darunter leidet das Leben außerhalb des Politikbetriebs. Man hat weniger Zeit für Familie und Freunde. Das spielt auf dieser politischen Ebene aber keine Rolle, es wird erwartet, dass man „funktioniert“. Ich versuche hingegen, mir wieder Zeit für Privates zu nehmen, weil ich merke, wie mich das letzte Jahr auch verändert hat. Bestimmte Veränderungen will ich nicht.

Welche?

Na ja, ich bin ein unbeschwerter Mensch und rede, wie mir der Mund gewachsen ist. Da es ja nicht alle gut mit einem meinen, wird man dann auch angreifbarer. Deswegen wird man vorsichtiger, man gibt ein Stückchen Spontanität her und dann noch eins. Es gab Phasen, wo ich zu viel aufgegeben habe.

Aber im Funktionieren bestand doch Ihr Erfolg: Dass alle dachten, jetzt kommt so ein ungeschickter Neuling mit Doppelnamen. Dann wurde überrascht registriert: Der funktioniert ja!

Ich wehre mich gegen dieses Bild des „Funktionierens“. Menschen bestehen nicht nur aus einer Aufgabe, sondern auch aus ihrer Emotion, ihrem Ich, ihrer Persönlichkeit. Das ist mir wichtig, und deswegen dürfen Sie auch in meine Aufzeichnungen schauen. Ich will offen bleiben, ohne einen Seelenstriptease zu machen oder auch zu viel Privates freizugeben. Es gibt harte Grenzen: meine Kinder zum Beispiel spielen in der Politik keine Rolle.

Das hört sich nach einer unmenschlichen Branche an.

Unmenschlich nein, dann müsste ich sofort aufhören. Sie ist hart, und häufig werden Politiker reduziert und als Maschinen gesehen. Sie müssen eben ständig funktionieren, immer sagen, wo es langgeht, selbst wenn sie selber Fragen haben. Ich denke, dass dies auch einer der Punkte war, wo viele hochgradig irritiert waren von meinem Führungsstil. Ich habe offen gesagt: Leute, wir sind jetzt bei 23,7 Prozent in Hessen. Wir haben auf die Ohren gekriegt. Wir haben Vertrauen verloren. Wir nehmen jetzt eine Auszeit und besprechen uns. Ich halte das Einräumen von Fehlern für die Voraussetzung für einen Neuanfang. Aber das ist derzeit zu guten Teilen systemfremd in der Politik.

Aber Sie geben doch zu, dass die Politik auch Sie verformt hat.

Ich bin beherrschter geworden, definitiv. Auch nicht mehr so ironisch, weil ich merke, dass sich Ironie im Parlament oder in Interviews fast nie transportieren lässt, was ich schade finde. Lachen, auch über sich selber, tut gut.

Beherrschen Sie jetzt den Umgang mit Fotografen? Im Tagebuch schreiben Sie nach einem Shooting: „Mittwoch, 31. 12. 2008, Horrortermin ganztags, Fotos machen. Superteam, aber meine Sperre gegen Fotos ist noch extrem hoch.“

Fototermine sind harte Arbeit für mich, strengen mich wirklich an. Ich bin selten entspannt, und das merkt man auch.

Was ist der Grund dieser Fotosperre?

Das ist ein sehr persönlicher. Es gibt Bilder aus meiner Jugend, die für einen Model-Wettbewerb ungeeignet sind.

Während des Wahlkampfs berichteten Sie, zehn, fünfzehn Kilo verloren zu haben.

(Lacht). Nee, nee, nee. Im Ergebnis waren es neun.

Und die kamen dann wieder?

Nein, die kamen nicht alle wieder, dafür lebe ich nach wie vor zu hektisch. Es gibt da ziemliche Schwankungen, je nachdem, ob ich zum Essen komme und was mich emotional beschäftigt. Womit ich oft kämpfe, ist Müdigkeit.

Weil Sie keine Zeit haben oder weil Sie nicht schlafen können?

Es ist beides. Im Prinzip könnte ich einen 48-Stunden-Tag gebrauchen, weil wir in der Partei die Kommunikation ausweiten ohne Ende. Wir müssen einfach reden und arbeiten. Und dann gibt es natürlich auch Momente, wo man schlecht schläft. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die Sachen abstreifen, wenn sie durch die Wohnungstür gehen.

Roland Koch hat einmal gesagt, er könne immer schlafen, egal was passiert.

Tja. Er funktioniert.

Sehen Sie ihn als Feind?

Als Gegner.

Warum nicht als Feind?

Weil das ein Tabuwort ist. Es gehört aus dem Sprachschatz der Politik gestrichen. Feinde gibt’s in der Politik nicht. Das mag für manchen nur ein Wortspiel sein, ich will damit mehr sagen: Genau dort verläuft die Grenze.

Gerade in Hessen pflegen doch Politiker, mit Emotion zu mobilisieren. Es werden Dämonen und Lichtgestalten beschworen. Und plötzlich geht es Ihnen zu leidenschaftlich zu?

„Erwartungshaltung extrem hoch. Listenplätze, Vorstandspositionen könnte man bis zu fünfmal vergeben. Werde mich nicht brechen lassen“

TAGEBUCH, FEBRUAR 2009

Politik muss leidenschaftlich sein. Ich ertrage Technokraten kaum. Man braucht innere Spannung, Emotionen, ein Verhältnis zu dem, was da passiert. Es darf nur nicht in Feinddenken münden oder im Fanatismus.

Sind Verletzungen nicht auch der Preis für jede starke Emotionalisierung, ohne dass es Fanatismus sein muss?

Das ist so. Ich sage ja: ein Spannungsverhältnis.

Jetzt klingen Sie ganz schön bedächtig. Sind Sie ein Softie-Chef?

Nein, den Ruf habe ich nun wirklich nicht. Aber wer von mir erwartet, dass ich den großen Zampano mache und erkläre, alle anderen sind blöd, wird enttäuscht. Dieses autoritäre Bild von Führung, das ist nicht meins.

Ich glaube Ihnen einfach nicht, dass Sie in diesem Geschäft nicht selber hart sind.

Das wäre auch falsch. Mein Ziel ist es aber, dass sich das Bewusstsein verändert, und dazu braucht man politische Debatte, Transparenz, und genau das mache ich. Da bin ich sehr entschieden, und das haben wir auch verabredet. Wer sich an die Spielregeln nicht hält, der ist dann eben auch raus. Die Spielregeln heißen: Wir tragen einen Konflikt dort aus, wo er hingehört. In der Fraktion und im Vorstand.

Sie verbieten den Mund.

Nie.

Aber Sie drängen in die Ecke.

Nein. Neue Diskussions- und Entscheidungskultur heißt aber, wenn etwas unterschwellig wabert, wird der Punkt öffentlich benannt. Dann wird debattiert und entschieden.

Im Februar 2009 schreiben Sie: „Fünf Tage bis zum Landesparteitag. Unfreundliche Gespräche werden deutlich mehr, Erwartungshaltung extrem hoch. Listenplätze, Vorstandspositionen könnte man bis zu fünfmal vergeben. Werde mich nicht brechen lassen.“

Das war zwischen der Landtagswahl und dem Landesparteitag. Vier sehr harte und anstrengende Wochen. Das war die aufgewühlteste Phase, alle hatten Frust und Angst.

Wovor?

Vor der Zukunft. Wer bekommt welchen Platz auf der Liste für die Bundestagswahl im Herbst? Wie sieht der neue Landesvorstand aus? Wie stellt sich die neue Fraktion auf? Sorge, Unsicherheit – alles in vier Wochen und alles nach einem Wahlkampf, der extrem kraftraubend war. Alle Bundestagsabgeordneten wollten möglichst weit nach vorne auf der Liste, um im Falle eines schlechten Ergebnisses abgesichert zu sein. Wir hatten gerade erlebt, dass wir nach der Wahl dreizehn Landtagsmandate weniger hatten. Das wurde alles bei mir in den Vorgarten gepackt. So. Und dann gab es auch Streit.

Wer wollte Sie denn brechen?

Ich verstehe Ihr Interesse, aber das ist abgeschlossen und geklärt.

Was war kaputt in Hessens SPD, als Sie Chef wurden?

Vertrauen. Gegenseitiges Vertrauen. Wir haben einen sehr langen und intensiven Diskussionsprozess gehabt. 41 von 42 Landtagsabgeordneten haben in geheimer Abstimmung gesagt, dass sie den Weg einer Minderheitsregierung gehen wollen. Regionalkonferenzen, Parteitage, Mitgliederversammlungen und viele persönliche Gespräche. Dann kommt der 3. November. Alle fragen sich, was ist da passiert. Ich habe deshalb viel Vertrauen vorgeschossen, es war die einzige Chance, neu aufzubauen. Und dieser Weg war erfolgreich. Gleichzeitig habe ich gesagt, Leute, es geht um die Frage, welche Fehler wir gemacht haben.

Im Tagebuch schreiben Sie einmal, wie Parteifreunde darauf setzen, dass die SPD bei einer regionalen Wahl scheitert. An verschiedenen Stellen ärgern Sie sich, dass Leute auf die persönliche Karriereplanung schauen, statt auf den Erfolg des Teams. Ist Egoismus symptomatisch für die Krise der SPD?

Quatsch. In allen Parteien gibt es – wie in allen anderen Lebensbereichen auch – Menschen, die sich nicht um das gemeinsame Wir scheren, sondern um das Ich. Das ändern sie nur dadurch, dass man wieder über Politik redet. Politik ist der Auftrag zu Veränderung. Wir sind ja nicht als Politiker für uns selbst da.

Kurz vor dem SPD-Landesparteitag, bei dem Sie Vorsitzender werden sollten, schreiben Sie: „Freitag, 27. Februar. Anruf der dritten Art am frühen Morgen. Manche glauben wirklich, dass ich alles auf einmal verändern kann. Kernproblem bleibt, dass wir eine neue Kultur der Aussprache brauchen. Landesparteirat und Landesvorstand trotz Fieber überstanden, meine Rede habe ich noch nicht vorbereitet, Nachtschicht.“ – Wie hält man so einen Job aus?

Mir ist früher nichts geschenkt worden. Mein Vater war Lkw-Fahrer und meine Mutter Putzfrau. Und es ist nicht sehr lustig gewesen, dass man zum Beispiel auf Klassenfahrten nicht mitgehen kann: Wenn die Lehrerin sagte, es gibt 40 Mark Zuschuss vom Elternverein, aber die Fahrt kostet 400 Mark. Ich weiß, wie man solche Situationen durchsteht. Ich musste immer hart arbeiten.

Sie wurden dann am 28. Februar mit 90 Prozent zum Chef der Hessen-SPD gewählt. Hat die Politik Ihnen nicht einen tollen Aufstieg ermöglicht? Und nun können Sie leicht die Karrieresehnsucht anderer kritisieren?

Ich kritisiere die Karrieresehnsucht anderer nicht. Ich betone nur, dass eine politische Karriere kein Selbstzweck ist.

Ihre Tagebucheinträge vermitteln den Eindruck, dass Politik im Grunde aus zwei Dingen besteht: Aus Gerangel und Wahlwerbung.

Das liegt daran, dass das letzte Jahr Krisenbewältigung war und zugleich ein Wahljahr. Ich hatte zu wenig Zeit über Perspektiven zu reden, über Konzepte und Ideen. Mit unseren Vorschlägen zur Reform der Arbeitsmarktpolitik haben wir nun wieder einen ersten Beitrag eingebracht. Weitere werden folgen. Zum Beispiel zur Finanzpolitik. Wir können die Grundrechenarten nicht außer Kraft setzen. Schuldenbremse einerseits und Steuersenkung anderseits geht nicht. Die FDP wird umfallen, hoffentlich einmal in die richtige Richtung. Angesichts der dramatischen Lage und der Herausforderungen unter anderem für Bildung in diesem Jahrzehnt muss beides hinterfragt werden.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Andrea Ypsilanti? In den Tagebuchpassagen, die Sie mir gegeben haben, kommt sie kaum vor.

„Sie müssen immer sagen, wo es langgeht, selbst wenn sie selber Fragen haben“

Andrea Ypsilanti hat eine unglaublich schwere Zeit hinter sich. In der Auseinandersetzung mit ihr wurden Grenzen überschritten: Diese absolute Personifizierung der Auseinandersetzung um das, was in Hessen passiert ist, bis hart an den Versuch, sie wirklich kaputtzumachen – das meine ich jetzt im übertragenen Sinne – fand ich unsäglich.

Aber wie ist Ihr Verhältnis? Ist sie Ihre Mentorin? Ihr Schatten? Oder sind Sie ihr Beschützer?

Wir sind befreundet. Da gibt’s nichts hineinzugeheimnissen. Und ich habe was dagegen, dass politische Verantwortung nur auf eine Person abgedrückt wird.

Nach der Bundestagswahl gab es eine Meldung, dass Ypsilanti wieder eine größere Rolle spielen und sogar ins Parteipräsidium wolle. Da müssen Sie doch explodiert sein!

Ja, ich bin explodiert, weil das eine Falschmeldung des Spiegels war. Zwei Minuten, nachdem die raus war, hat Andrea mich angerufen, und die Sache war geklärt.

Sie haben nicht gedacht: Die Frau hat ihre Chance gehabt, und jetzt will sie noch meine Chance haben?

Nein. Andrea Ypsilanti und ich sprechen regelmäßig miteinander und nicht übereinander. Dass ich manches anders mache, liegt daran, dass ich ein anderer Mensch bin.

Die SPD ist bei der Bundestagswahl dort gelandet, wo Sie davor schon standen: Bei 23 Prozent. Was können Ihre Parteifreunde in Berlin von Ihnen lernen?

Wie man nach einem Desaster zur Politik zurückfindet. Wie man wieder aufbaut. Man kann auch lernen, wie man Wahlen gewinnt. 2008 hat die Hessen-SPD 7,6 Prozent dazu gewonnen, das sollten wir nicht klein reden.

Sie sind in Gießen aufgewachsen, in der Nordstadt, einem schwierigen Viertel. Mögen Sie die Berliner Politgesellschaft?

Ich fremdele mit Berlin nicht. So lange ich weiterhin selbstbewusst durch die Nordstadt laufen kann und mir nicht wie ein Fremdkörper vorkomme, so lange ist alles in Ordnung.

Schreiben Sie dafür Ihre Tagebuchzettel? Um sich nicht zu verlieren zwischen dem Wiesbadener Landtag, dem Willy-Brandt-Haus und dem Café Einstein in Berlin?

Sie haben in der Aufzählung Lich-Birklar, das 750-Seelen-Dorf in dem ich lebe, vergessen. Nein, ich habe keinen Tagebuchzettel dafür. Ich habe ein paar Freunde gebeten, mir es bitte zu sagen, wenn ich mich verliere.

Wie soll das klappen? Sie sehen die Freunde doch gar nicht mehr, haben Sie vorhin gesagt.

Ich habe schon gesagt, dass ich mir gerade manches wieder zurückhole. Das gehört dazu.

Georg Löwisch, 35, leitet das sonntaz-Ressort. 2008 lernte er Schäfer-Gümbel bei Recherchen für ein Porträt kennen (taz.de/tsg)

Bernd Hartung, 42, fotografiert seit fünfzehn Jahren für die taz und berichtet für andere Magazine aus aller Welt