: China überholt, ohne einzuholen
Auf der Konferenz in Hongkong sickerte durch, dass das Land über Nacht viertgrößte Volkswirtschaft der Welt wurde. Denn die Chinesen gehen öfter zum Friseur als gedacht
PEKING taz ■ Mag die WTO-Konferenz in Hongkong scheitern oder nicht – China nutzt gekonnt die Chance der Selbstdarstellung. Eine Woche bevor die Ergebnisse einer nationalen Wirtschaftserhebung offiziell veröffentlicht werden, sickerte in Hongkong durch: China ist plötzlich zur viertgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgerückt – hinter den USA, Japan und Deutschland.
Das aufstrebende Land hat mit einem Mal Frankreich, Großbritannien und Italien überholt, weil die dortigen Statistiker bisher den Dienstleistungssektor unterbewertet hatten. Bislang wurden bei den Berechnungen nämlich chinesische Service-Leistungen im Wert von 300 Milliarden Dollar übersehen. Anwaltskanzleien und Rechtsanwälte sind in der boomenden Wirtschaft gefragt, das war bekannt. Doch die Chinesen geben mittlerweile auch viel mehr Geld beim Friseur und in Restaurants aus, als die Statistiker glaubten. Die Macht Chinas in den weltwirtschaftlichen Verhandlungen dürfte demnach in Zukunft steigen.
Noch gibt sich das Land auf der Konferenz in Hongkong bescheiden. Still und brav hat sich Peking in die G 20, eine Gruppe einflussreicher Entwicklungsländer, eingeordnet und überlässt dort Brasilien und Indien das Kommando.
Nur wenn einzelne Länder China direkt wegen mangelnder Treue zu den WTO-Richtlinien angreifen, wehrt sich der Delegationsleiter. „China ist selbst das größte Opfer unfairer Dumping-Praktiken“, entgegnete Handelsminister Bo Xilai auf die in Hongkong von den USA vorgetragene Kritik, dass China mit einer niedrigen Währung und einem geschlossenen Finanzsektor weltweit auf die Preise drücke. Allerdings war die Antwort Bos dann doch nur eine rhetorische. Wo genau China unter Dumping-Preisen litte, konnte er nämlich nicht erklären.
Doch China steht bei der WTO nicht im Zentrum der Anklage. Obwohl es mit seinen Produktschwemmen sowohl die ganz reichen als auch die ganz armen Länder in Verlegenheit bringt. Vielmehr streiten die Mitgliedsländer um Agrarsubventionen. Die Zölle für landwirtschaftliche Produkte, die besonders umstritten sind, liegen in China bei 15,3 Prozent; weltweit liegt der Durchschnitt bei 62 Prozent.
Doch China arbeitet nicht nur mit Zahlen an seinem Image. Selten waren so viele Demonstranten auf chinesischem Boden zu sehen. Sogar die von der KP kontrollierten Medien berichten ausführlich über südkoreanische Reisbauern und andere exotische Demo-Touristen. Das Antiglobalisierungsspektakel vor den Türen der WTO-Konferenz erscheint den Pekinger Propagandisten als harmloser Medienzirkus. Zensiert werden hingegen Berichte über volksrepublikanischen Bauernproteste. In einem Dorf 200 Kilometer östlich von Hongkong wurden gerade drei Bauern von der Polizei erschossen. GEORG BLUME
JOHANN VOLLMER