: Von Anfang an weniger Chancen
Kinder, die erst in der Schule Gemeinschaft lernen, Eltern, die bei jedem Extra bangen – Einblicke in die Zusammenhänge von Armut und Bildung und ein Auszug aus einer Reportage im aktuellen Armutsbericht der Arbeitnehmerkammer
Von Susanne Gieffers
Don Do Ko Don Kon. Dodonkododonkodokododon – nein, es geht hier in Osterholz-Tenever nicht um Rhododendron, die Don Kosaken oder irgendwelche Kokons: Es geht ums Trommeln, ums Lernen und um Gemeinsamkeit. Die 20 Kinder im Musikraum der Schule Andernacher Straße finden die scheinbar verirrten Silben kein bisschen fremd. Es ist ihr Rhythmus.
Hoch aufgereckt stehen die vier in der ersten Reihe vor ihren großen Trommeln, die Beine gespreizt, die Füße fest auf dem Boden, die Arme in die Höhe gestreckt, den Rücken durchgedrückt, das Gesicht geradeaus, das Kinn erhoben. Die Trommeln reichen nicht für alle, in den Reihen dahinter stehen die Kinder vor ihren Stühlen, darauf blaue, rote, gelbe Quader aus Plastik. Alle in derselben Pose. Dann beginnen sie. Do-don-ko-dodon-ko, jede Silbe ein gemeinsamer Schlag auf Trommel oder Quader, den einen Arm in der Höhe, den anderen nach unten und umgekehrt. Und immer wieder aufrichten. Es ist laut. Ohrenbetäubend. Beeindruckend.
„Langsam fahren, sonst verpasst ihr die Ausfahrt“, ruft Masakazu Nishimine in die Runde. Der Künstler, der hier traditionelles japanisches Trommeln unterrichtet, hat die Kleinen genau im Blick. „Masa, guck mal, ich kann’s“, kräht ein Junge. „Erst, wenn ihr alle richtig spielt, sieht es auch gut aus“, sagt Masa, „strengt euch an, aber macht langsam: Jeder muss es verstehen.“ An diesem Morgen trommeln sie verschiedene Lieder, japanische und deutsche. Das „Auf der Mauer, auf der Lauer“ bekommt japanisch 20-fach synchron getrommelt eine ganz neue Note, irgendwie massiv, erschütternd, tiefgründig.
Masa, wie ihn hier alle nennen, kommt einmal die Woche. Im Rahmen des Muse-Projekts, das die Yehudi-Menuhin-Stiftung für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf ins Leben gerufen hat, bringt er den Drittklässlern Trommeln bei. Und noch viel mehr. Ein Gefühl für Rhythmus, für Bewegung und für Gemeinsamkeit.
Auf den ersten Blick mag es wie eigentümlicher Luxus scheinen, mit dem es die Kinder bereits zu einem Auftritt ins Bremer Rathaus geschafft haben. Auf den zweiten Blick geht es hier um ganz Grundsätzliches.
Den Kindern den Rücken stärken will Schulleiter Uwe Hehr mit Projekten wie diesem. An der Schule Andernacher Straße in Osterholz-Tenever haben 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Und sehr viele sind arm. Kinder die am Montag mit Riesenhunger in die Schule kommen, weil es am Wochenende zu Hause kaum etwas zu essen gab. Kinder die am Montag fast einschlafen, weil das ganze Wochenende zu Hause die Glotze lief und keiner darauf achtete, wann das Kind ins Bett kam. „Kinder die keine Strümpfe oder nur welche mit Riesenlöchern drin anhaben“, erzählt Lehrer Folkert Hanssen.
Die Armut sei nicht immer eine materielle, betonen Hehr und Hanssen. „Das Geld für Kaba und Vanillemilch ist da“, sagt Hanssen, „und statt eines liebevoll gemachten Butterbrots und Saft oder Tee bringen sie oft so’n teures gekauftes Teil mit.“
Ganz oft fehle zu Hause das Miteinander, „es gibt entweder keine Erziehung oder ganz strenge Regeln. Aber keine Flexibilität“, hat Uwe Hehr beobachtet. Die Folge: Die Kinder sind in ihrer Entwicklung nicht so weit, wie sie sein sollten, wenn sie zur Schule kommen. „Sie sind in der Regel nicht in der Lage, gemeinsam in der Gruppe zu arbeiten, gemeinsam zu essen, aufeinander zu warten“, sagt Hehr, „die sozial-emotionale Seite ist hinterher.“
Auf die Frage, ob die Lehrer hier ihr Pensum schafften, schütteln beide mit dem Kopf. Hanssen erzählt von dem Druck, unter dem er und seine Kollegen stehen: „Die eigentliche Aufgabe, nämlich Wissen zu vermitteln, kommt zu kurz.“ Und wenn Uwe Hehr leise sagt: „Unsere sind einfach kleiner“, dann wird klar, warum die Bild-Zeitung, die nach der VERA-Grundschuluntersuchung über die Sozialindikatoren der Andernacher Straße „die schlechteste Schule Bremens“ titelte, hier Hausverbot hat.
Im vierten Schuljahr wäre in „Deutsch Grammatik dran. Aber da kann man unseren Kindern nicht mit kommen, das geht nicht“, sagt Hehr. „Wir schaffen nicht, in vier Jahren das aufzuholen, was zuvor zu Hause gefehlt hat.“ Also geht es Hehr, Hanssen und den anderen Lehrern hier um anderes: „Lust machen auf Schule, stark machen“, sagt Hehr dazu, „wir gucken auf Stärke, Selbstwertgefühl und soziale Kompetenzen. Wenn diese Seite stimmt, dann lernen die den Rest von alleine“, so der Schulleiter und setzt hinterher: „Das ist meine persönliche Sicht.“
Dass Eltern an ihren Kindern nicht interessiert seien, glaubt Anne Knauf nicht. Die Leiterin des Kindertagesheims Andernacher Straße erklärt den Druck, der auf vielen Bewohnern des Hochhausviertels lastet: „Wenn ich als Erwachsener mit meinen Lebensumständen mehr als genug zu tun habe, dann gehe ich nicht mit meinem Kind spazieren oder lese ihm vor, sondern ich versorge es und habe mit mir selbst zu tun.“ Das gilt nicht nur für Migranten, das gilt auch für deutsche Familien. „Migranten kommen meist ohne Bildungshintergrund hierher“, sagt Knauf, und bis zu der Frage „Was muss mein Kind denn können, damit es in dieser fremden Kultur zurechtkommt?“ kämen viele erst gar nicht. Die Kinder haben Entwicklungsverzögerungen in allen Bereichen. „Sie haben von Anfang an die schlechteren Startchancen“, sagt Knauf. Und oft bleiben sie im Stadtteil. „Nur der Weg zur Ausländerbehörde ist bekannt“, erzählt Anne Knauf. Und der Weserpark. Wenn sie mit ihren Kids den Bürgerpark besuchen, hören die Erzieherinnen regelmäßig ein erstauntes „Das ist ja ein Wald!“ – denn erwartet wurde, was sonst, ein Einkaufszentrum.
35 Prozent der Menschen in Tenever leben von der Sozialhilfe, und das trifft vor allem Kinder und Jugendliche, denn Tenever ist der kinderreichste Ortsteil in ganz Bremen. „Hier wächst gewissermaßen die Zukunft Bremens und der Sozialversicherungssysteme heran“, erklärte Joachim Barloschky von der Stadtteilgruppe Tenever bei einem Integrationsworkshop in Rotterdam, auf dem er im vergangenen Jahr den Stadtteil und die Arbeit der Gruppe vorstellte. Tenever ist international. Hier leben Menschen aus 88 Ländern, 40 Prozent sind Ausländer, 30 Prozent sind Aussiedler.
„Alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder, egal aus welchem Land sie kommen, welche sonstigen kulturellen und moralischen Werte sie haben“, sagte Barloschky in Rotterdam. Seine Kollegin Maren Schreier sagt ein paar Monate später in einem der Hochhäuser: „Die Kids kriegen oft nur Markensüßigkeiten aus der Werbung mit. Die Kinder sollen’s gut haben. Sie sollen es nicht merken“, dass das Geld fehlt.
„Es ist in der Tat so, dass die Leute am Ende sind“, sagt Joachim Barloschky, „die arbeiten Teilzeit hier, illegal da, die kloppen Nachtschichten auf Tagschichten.“ Das macht, sagt Barloschky, einen schlechten Start aus.
Knauf, Barloschky, Schreier und die anderen Tenever-Engagierten sehen die vielen Kulturen und die Zwei- bis Mehrsprachigkeit vieler Kinder durchaus als Chance – aber das, sagen sie, sei längst nicht bei allen so. „Viele sehen von außen auf Tenever“, sagt Anne Knauf, „und finden das hier das Allerletzte.“
Mit Vorurteilen sind Anne Knauf und ihre KollegInnen häufig konfrontiert. Und mit der Haltung, die Migranten sollten gefälligst deutsch lernen und mit ihren Kindern zu Hause deutsch sprechen – wie wichtig die Muttersprache aber für die Kinder und ihre Familien ist und wie viel Potenzial die Mehrsprachigkeit bergen kann, das werde viel zu wenig geschätzt.
Ein Lehrer wie Folkert Hanssen von der Grundschule schätzt jeden seiner kleinen Schützlinge. „Es ist schön, dich in meiner Klasse zu haben, und ich komme auch deshalb jeden Tag gern in die Schule, weil du in meiner Klasse bist, so oder ähnlich“, zitiert Peter Halamoda das Zeugnis, das seine Tochter einst nach Hause brachte. Ausgestellt von Folkert Hanssen. Der wird später abwinken, persönliche Briefe wie diese hätten in dieser Jahrgangsstufe alle Lehrer allen Schülern ausgestellt, individuell und motivierend habe es sein sollen.
Peter Halamoda hat dieses Zeugnis seiner Tochter eingerahmt und an die Wand gehängt. Er ist Elternsprecher und im Stadtteil sehr aktiv. „Je mehr Bildung man hat, desto mehr kann man machen“, sagt der Mann, der jahrelang Trucks durch ganz Europa gefahren hat. Jetzt ist er arbeitslos.
„Es geht dabei gar nicht so sehr um Zeugnisse oder Dokumente“, findet Halamoda, „es geht um praktische Erfahrung.“ Aber, setzt er nachdenklich nach, „manchmal sind auch Papiere wichtig“. Das merkt er, wenn er bei Jobs, von denen er weiß, er wäre geeignet, gleich von der Bewerbung absieht, weil Hochschulabsolventen gewünscht werden.
Halamoda kennt Tenever gut. Erzählt von Sozialhilfekarrieren, von den Sprachschwierigkeiten, die „das Internationale“ mit sich bringe, davon, dass er eine Software zu bekommen versucht, die die Infoblätter für die anderen Eltern in verschiedene Sprachen übersetzt, und er erzählt von den Spanischkursen, die er sich für die Schule wünscht, wie am Kippenberg-Gymnasium in Schwachhausen. Da aber zahlen die Eltern. „Das wäre hier natürlich nicht möglich“, sagt Halamoda, „da fangen die Unterschiede an“.
Nicht erst bei den Spanischkursen. Wenn Klassenfahrten anstehen, fehlt vielen das Geld. Dafür gibt es Zuschüsse vom Amt für Soziale Dienste. „Da hab’ ich einen Sammelantrag fertig gemacht“, erzählt Halamoda, „ich hab keine Angst vor denen im Amt.“ Dennoch seien trotz gewährter Zuschüsse viele Kinder nicht mitgefahren. „Weil die das Geld so ausgegeben haben“, glaubt Halamoda.
„Ich bin auch so einer“, sagt neben ihm etwas verdruckst Martin Schneider (Name geändert), „ich leb’ vom Unterhalt und vom Kindergeld.“ Die Klassenfahrt aber würde er seinen drei Kindern möglich machen. „Meine Kinder sind noch überall mit hingefahren“, erklärt er und klingt sehr stolz. „Du planst ja auch“, sagt Halamoda zu Schneider, „aber die anderen lassen das alles so auf sich zukommen.“
Doch auch das Planen hilft nicht immer. „Wenn Ausflüge anstehen, komme ich schon ins Schwitzen“, sagt Martin Schneider, „wenn größere Summen bezahlt werden müssen, erst recht.“ Seine Kinder sollen aufpassen in der Schule. „Hätte ich mehr aufgepasst, wäre ich nicht auf dem Bau gelandet.“ Da hat er sein halbes Leben lang geschuftet. Jetzt ist er 35, arbeitslos, „Rücken kaputt“. Immer schön aufpassen, „damit ihr mal nicht so schwer arbeiten müsst wie ich“.
Die vollständige Reportage „Sie wollen alle nur eines: ein geregeltes Leben“ steht im Armutsbericht der Arbeitnehmerkammer: www.arbeitnehmerkammer.de.