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Archiv-Artikel

Kick-off und Barbecue

Jeden Sonntag pilgern Football-Fans aus der gesamten Region nach Seattle, um ihre Seahawks anzufeuern. An diesen Tagen dominiert ein ganz eigener Geruch die Gegend ums Stadion

Sie kommen mit Autos, die Explorer heißen und in ihrem Kofferraum ganze Feldküchen verbergen

AUS SEATTLE THOMAS WINKLER

Der Amerikaner liebt dicke Männer, deren in dicke Schutzpolster verpackte Körper knochenkrachend aufeinander prallen. Fast noch mehr allerdings liebt der Amerikaner dicke Steaks, die mit dicken Saucen serviert werden. Diese beiden Leidenschaften finden alljährlich im Herbst überall im Land zu einer so harmonischen wie kalorienträchtigen Symbiose zusammen: Denn wenn die Temperaturen sinken und die Tage kürzer werden, dann beginnt die Saison im American Football. Samstags spielen traditionell die Universitäts- und Collegemannschaften, sonntags laufen die Profis der National Football League (NFL) auf. Doch ein Football-Spiel beginnt bereits lange vor dem Kick-off mit einem zünftigen Barbecue.

Es ist Dezember, ein Sonntagvormittag in Seattle. Downtown tobt der vorweihnachtliche Wahnsinn. Gewöhnlich weht vom Puget Sound her stets milde Meeresluft durch die streng quadratisch angelegten Straßenschluchten. Heute nicht, heute dominiert der Geruch von verbranntem Fleisch. Der zieht heran aus Süden, vom Rande der Innenstadt. Dort liegt Qwest Field, das Stadion der Seattle Seahawks, die später an diesem Tag den einst übermächtigen San Francisco 49ers eine gehörige Abreibung verpassen werden.

Aber noch ist es nicht so weit, noch ist Zeit für gegrilltes pork, beef und chicken. Aus dem ganzen Bundesstaat Washington sind sie angereist, aus Bellingham und Yakima, aus Olympia oder Tacoma. Etliche kommen aus dem im Süden angrenzenden Oregon, eher wenige aus dem östlich gelegenen Idaho oder Kanada im Norden, das immer noch vornehmlich Eishockeyland ist. Es sind Väter mit ihren halbwüchsigen Söhnen, komplette Kleinfamilien und halbe Großraumbüros. Sie kommen mit Autos, die Explorer heißen und in ihrem Kofferraum ganze Feldküchen verbergen, inklusive Warmhaltevorrichtungen aus der Gastronomie. Sie kommen in Wohnmobilen, deren Größe und Ausstattung mit einer kleineren Villa konkurrieren können.

Das liebste Gefährt aber ist weiterhin der Pick-up-Truck, dessen Ladefläche sich mit wenigen Handgriffen in eine Theke verwandeln lässt, auf der Grill und Biervorräte platziert werden. Das hat der ganzen Veranstaltung den Namen gegeben: tailgating. Geschmort wird mit Kohle oder Gas, gesessen wird auf Campingstühlen, eingehüllt in Decken gegen die winterliche Kälte. So verwandelt sich der Parkplatz vor dem Qwest Field wie selbstverständlich in das größte Open-Air-Barbecue im Staate Washington.

Mike und seine Kumpel sind in aller Frühe angereist. Das gewaltige Wohnmobil bietet Platz für acht Männer, allesamt um die 30 Jahre alt. Man trifft sich regelmäßig zum Bowling, und im Herbst wird der Trailer jede zweite Woche mit Alkohol, hot wings und Bratwurst beladen und zu den Heimspielen der Seahawks gesteuert. Das Bier fließt in Strömen, die Steaks werden serviert mit vorbereiteten Salaten und Saucen in allen Farben des Regenbogens.

Nur wer das riesige Gefährt wieder nach Hause lenken soll, nach Ellensburg, das haben die acht noch nicht abschließend geklärt, erzählt Mike und bietet noch ein Büchse Bier an. Dass die Heimmannschaft, die sie bald anfeuern werden, seit acht Wochen ungeschlagen ist, die beste Offensive der ganzen NFL zu bieten hat und mittlerweile gehandelt wird als überaus aussichtsreicher Anwärter auf das Erreichen der Super Bowl, die am 5. Februar in Detroit stattfinden wird, das scheint vor dem Kick-off auf dem zum Feldlager umfunktionierten Parkplatz allerdings nur am Rande zu interessieren. Schließlich bleiben nur noch anderthalb Stunden, die mitgebrachten Vorräte zu vernichten.

Und gekommen wären Mike, seine Freunde und all die anderen sowieso: Fast alle NFL-Stadien sind ausverkauft, manche Collegeteams zählen regelmäßig über 100.000 Zuschauer, und nicht nur bei den Green Bay Packers sind die Nachrückerlisten für Saisonkarten mittlerweile so lang, dass die Wartezeit in Jahrzehnten gemessen wird.

Der Parkplatz hat sich noch nicht einmal vollständig geleert, da haben die Seahawks das Spiel schon fast gewonnen. San Francisco, noch in den Neunzigerjahren eine der dominierenden Mannschaften der NFL, ist inzwischen ein Kellerkind der Liga und an diesem Sonntagnachmittag herzlich chancenlos. Die Verteidigung der Seahawks lässt der 49ers-Offensive um den blutjungen Quarterback Alex Smith keine Luft zum Atmen, der Angriff punktet nach Belieben, und running back Shaun Alexander bricht eine Teambestleistung nach der anderen. Es gibt also für das Publikum reichlich Gelegenheit, aufzuspringen und beide Arme parallel in den trüben Himmel zu recken, so wie es auch die schwarz-weiß gestreiften Schiedsrichter tun, um einen touchdown anzuzeigen.

So ist das Spiel zum Ende der ersten Halbzeit bereits entschieden, auch wenn der Schwarzhändler noch tapfer seine letzten Eintrittskarten für 40 Dollar das Stück anbietet. Auf dem Parkplatz allerdings sitzen noch einige wenige auf ihren Campingstühlen, zu uninteressiert oder schlicht zu besoffen, um den Weg ins nur hundert Meter entfernte Stadion zu schaffen. Manche Colleges haben mittlerweile verfügt, dass die Grillmeister 15 Minuten nach dem Anpfiff entweder ins Stadion gehen oder den Parkplatz verlassen müssen.

Die Seahawks sehen das noch lockerer. Nach dem Spiel werden auf dem Weg zurück zum Wohnmobil, wo noch ein Rest der Biervorräte wartet, die Chancen des Teams diskutiert: Die Super Bowl sollte drin sein, ist die einhellige Meinung. Tatsächlich ist die Stadt geradezu ekstatisch, aber was bleibt ihr schon anderes übrig: Weder mit den Baseball spielenden Mariners noch den in der NBA tätigen Supersonics ist momentan Staat zu machen. Also werden die nach Jahrzehnten der Mittelmäßigkeit erst seit zwei Jahren wieder erfolgreichen Seahawks umso inniger in die Arme geschlossen. Eine Lokalzeitung kürte Quarterback Matt Hasselbeck zum begehrtesten Mann im Nordwesten der USA – trotz Halbglatze. Eine Schönheit, die lieber anonym bleiben will, wird von dem Blatt zitiert: „Hätte der Typ auch noch Haare, das wäre dann wirklich ungerecht.“

Ach ja: Am Ende hatte Seattle 41:3 gewonnen, ist nun seit neun Spielen ungeschlagen und kann sich unter Umständen bereits morgen mit einem Sieg bei den Tennessee Titans das Heimrecht in den gesamten Play-offs sichern. Am kommenden Wochenende werden Mike, seine Kumpel und die ungeschlagenen Indianapolis Colts in Seattle erwartet. Es wird wieder Zeit, das Wohnmobil zu beladen.