: Retter in der Not
ALLTAG Mit allen Kräften und Mitteln schuften die internationalen Rettungshelfer und Hundeführer. Die Suche nach Überlebenden hat Vorrang vor der Bergung der Toten
AUS PORT-AU-PRINCE HANS-ULRICH DILLMANN
Juan Camilo Sánchez ist fertig. Der Schweiß rinnt ihm von der Stirn. Die auf ex ausgetrunkene Wasserflasche hilft nur wenig. Den Riemen seines Helms hat er geöffnet. „Blutgruppe 0+“ steht dort. Man kann ja nie wissen. Sánchez macht einen gefährlichen Job. Mit seinen Kollegen aus der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá sucht der Feuerwehrmann nach Überlebenden. Er hat schon viel Schweiß vergossen und wenig Ruhe gehabt. Seit zwei Tagen ist die auf Rettung von Verschütteten spezialisierte Truppe in Port-au-Prince unterwegs, um Überlebende unter den immensen Schuttmassen ausfindig zu machen und die Bergung zu organisieren.
„Wir haben wenig Erfolg gehabt. Die Wucht des Bebens war sehr stark, und die meisten sind beim Zusammenbruch der Wände und Decken erschlagen worden“, fasst der 30-Jährige die letzten 48 Stunden Einsatz zusammen. Die Feuerwehrmänner, Zivilschutzmitglieder, Rotkreuzmitarbeiter wurden gemeinsam mit ihren Hunden mit einer Maschine der kolumbianischen Luftwaffe eingeflogen. „Es ist nicht leicht. Wir machen die Arbeit, um Menschen zu retten, aber gleichzeitig ermöglichen wir es den Familien, ihre Toten bestatten zu können. Und wie ich gehört habe, ist dies in Haiti sehr wichtig.“
Zwei Jahre wurde Juan Camilo Sánchez als Verschüttetensucher und Hundeführer ausgebildet. „Meine Verlobte“, sagt Sánchez und klopft seiner Hündin auf den Rücken. Die wirkliche Lebensgefährtin wartet derweil zu Hause, vor einem Monat hat Sánchez geheiratet.
Die kolumbianischen Rettungskräfte haben einen großen Vorteil, Erdbeben und Erdrutsche sind in Kolumbien nicht selten und erst im Oktober vergangenen Jahres wurde landesweit der Notstand geprobt. „Wir sind wirklich fit“, sagt Carlos Rodriguez. Jetzt kniet er mit seinem Kollegen Bombero Sánchez vor einer schweren Betonplatte. Die ehemalige Terrasse im Luxushotel Montana ist bei der Erderschütterung am Dienstagnachmittag wie ein Stein nach unten geschlagen und hat die Hotelgäste, die in der darunter liegenden Bar einen Drink genossen, erschlagen. „Sie haben keine Chance gehabt“, sagt er und untersucht den Leichnam eines Mannes, der sich nicht retten konnte und direkt an der Ecke eingeklemmt ist.
An einer anderen Stelle des Hotels Montana durchforsten derweil Feuerwehrmänner und -frauen aus Fairfax County in der Nähe von Washington systematisch die Trümmer des Prominentenhotels. Der Trupp aus 43 Personen ist um zwei Uhr in der Nacht gelandet und arbeitet sich auch mit Hubgeräten durch das Gebäude, kontrolliert Hohlräume mit dünnen Glasfieberkameras und versucht mit Abhörgeräten auf Überlebende zu stoßen. „Die Chancen werden mit jeder Minute geringer“, urteilt der Operationschef John Diamantes, der in Heidelberg geboren wurde. „Die suchen doch nur nach ihren Landsleuten“, schimpft derweil ein anderer lateinamerikanischer Retter verbittert, der aber lieber nicht namentlich zitiert werden will. „Wir haben Franzosen erlebt, die zu zusammengebrochenen Gebäuden kamen, weil dort Landsleute vermutet wurden. Sie haben sie geborgen und sind wieder abgehauen. Die Spanier machen das. Und die US-Amerikaner ebenso wie die Kanadier kümmern sich auch nur um die Ihrigen.“
Tote Haitianer würden einfach nicht geborgen, sagt er. Das schwere Räummaterial wie Hydraulikpressen und -schneider, dass seine Sucheinheit mitgebracht habe, liege noch immer am Flughafen, weil „die Amerikaner“ sich mit der Abfertigung Zeit ließen. Es mag zwar sein, dass die Rettungstrupps aus aller Welt von den Botschaften zu den Orten dirigiert werden, an denen Opfer des jeweiligen Landes vermutet werden, aber, so sagt Kevin Thix vom humanistischen Interventionsteam des luxemburgischen Zivilschutzes, „zuerst kommen die Lebenden. Wenn wir keine Lebenszeichen finden, ziehen wir ab, um an anderen Orten zu suchen. Die Toten müssen später geborgen werden.“ Und dafür schuften die Frauen und Männer des luxemburgischen Zivilschutzes ebenso wie Rettungskräfte, die aus Peru, Japan, Jamaika und sogar Island eingeflogen wurden, ohne Atempause.
In der Faculte Linguistique Applique in der Rue de Fort werden noch neun überlebende Schülerinnen vermutet. Es ist fast Mittag, die Sonne brennt unerbittlich und der Leichengestank ist schier unerträglich. Auf der gegenüberliegenden Seite des in sich zusammengestürzten Gebäude drängen sich Schaulustige – und zahlreiche Angehörige der Studierenden. Donnerstag habe es noch Kontakt mit einigen Überlebenden gegeben. „Einige Eltern haben sogar SMSe erhalten“, erzählt Joseph Maudelaise. Der 32-Jährige schläft gegenüber der Schule, in der Hoffnung, dass jemand kommt, um seine 25 Jahre alte Frau Charlie Bonne Annee aus dem Beton-und-Moniereisen-Gefängnis zu befreien.
Von Elysée Bien-Aimé gibt es ein Lebenszeichen. Ein englischer Suchtrupp konnte die Sprachenstudentin am Freitag in einem Hohlraum ausmachen. Sie habe ein Bein gebrochen, erzählte sie den Rettungskräften. Durch ein Loch wurde sie mit Medikamenten und Wasser versorgt, aber der Trupp habe kein schweres Bergematerial dabeigehabt und so habe sie eine weitere Nacht in den Trümmern verbringen müssen, erzählt ihr Vater, der mit Tränen in den Augen auf die Rettung wartet.
Der jamaikanische Rettungstrupp hat inzwischen den Weg für die Luxemburger Hundestaffel freigelegt. 20 Minuten sucht die Hundeführerin mit ihrem Tier in dem Schutthaufen nach Lebenszeichen, danach kommt ein anderer Hund. Kein Bellen, auch nach der dritten Suchrunde, schweigsam und mit gesenktem Kopf kehrt die junge Frau Staub überzogen zu ihrem Gruppenleiter zurück – das kaum sichtbare Kopfschütteln spricht Bände.
„Hier ist kein Leben mehr zu retten“, sagt ein Helfer. Elysée Bien-Aímés Vater und Charlie Bonne Annees Mann ahnen noch nicht, dass ihre Familienangehörigen nach das Erdbeben vom Dienstag nicht überlebt haben dürften. Keine 200 Meter entfernt tragen vier Männer einen Sarg aus einer Freilufttischlerei. Auf dem Boden liegen Holzspäne, halbfertige Särge warten auf den letzten Schliff. In Port-au-Prince haben im Moment die Sargschreiner Konjunktur.