: „Du schönste deutsche Stadt“
Nüchterner Betrachtungen wirrer Nachhall: Wie der Schriftsteller Kurt Tucholsky 1927 über die Reeperbahn nachts um halb eins bummelte
von Bernhard Röhl
In Berlin warfen am 10. Mai 1933 Studenten in SA-Uniform Bücher der Weltliteratur ins Feuer. Neben anderen, grölten sie, solle die Flamme auch die Werke von Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky verschlingen. Seit diesem Zeitpunkt veröffentlichte Tucholsky aus eigener Entscheidung keine Zeile in der Öffentlichkeit. Erich Kästner, Zeuge der Verbrennung seiner Bücher auf dem Berliner Opernplatz, kannte Tucholsky. Später nannte er ihn einen kleinen dicken Berliner, der mit der Schreibmaschine gegen den Faschismus gekämpft habe und in die Emigration ohne Rückkehr gegangen sei.
Verzweifelt und krank nahm sich Kurt Tucholsky am 21. Dezember 1935 im schwedischen Exil das Leben. Noch kurz zuvor hatte er einen umfangreichen Brief an Arnold Zweig geschrieben. Darin verurteilte er jene Emigranten, die keine Selbstkritik geübt hätten. Vielmehr hätten alle versagt – auch er selbst. Lange hatte der politisch-satirische Schriftsteller zuvor die militaristischen und reaktionären Kreise in Deutschland angeprangert, aber auch die Politik Eberts, Noskes und anderer Sozialdemokraten verurteilt, die er als „außen rot und innen weiß“ kennzeichnete.
Sein Weg führte Tucholsky, der zahlreiche Reiseberichte verfasste, auch nach Hamburg. Am Harvestehuder Weg wohnte sein Freund Jakopp, den er während des ersten Weltkrieges als Soldat kennen gelernt hatte. Jakopp – eigentlich Hans Fritsch – sei „irgend etwas Hervorragendes im hamburger Wasserwerk“, berichtet Tucholsky 1928 in seiner Reportage Es ist heiss in Hamburg. Deren Anfang ist eine wahre Liebeserklärung an die Hansestadt: „Hamburg, du schönste deutsche Stadt! – ‚Den zuckenden Fisch an der Nordsee‘ hat dich Larissa Reissner genannt“, zitiert er die russische Autorin, deren Buch Oktober über die russische Revolution und den Hamburger Aufstand von 1923 er in der Weltbühne vom 22. Februar 1927 ausführlich rezensiert hatte. „Hamburg – Stadt für Männer, Stadt der kraftvollen Arbeit, Stadt auch für Liebende – wie ein kleines Meer lag die Alster (Ozean privat) morgens um halb fünf in der hellblau-violetten Stunde ... Guten Tag, Hamburg“.
„Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“, überschrieb er eine weitere Reportage mit dem Titel jener Hymne, die Ralph Arthur Roberts, einst Theaterdirektor auf St. Pauli, 1919 geschrieben hatte und die später auch von Hans Albers interpretiert wurde. Tucholsky berichtet, dass sie in einem chinesischen Restaurant beim Tanzen gesungen wurde, die Belegschaft eingeschlossen: von Südamerikanern, Siamesen und Schwarzen.
Im „Hippodrom“, in der Großen Freiheit, trabten im Keller die Pferde mit müden Augen im Kreis. Tucholsky hielt fest, dass nicht nur Nachtbräute da waren, sondern auch Tagesdamen und Familien: Es war Sonnabend. „Da, an der Ecke, wollte uns der Portier hineinlocken – die Damen seien alle in Schwimmhosen, versicherte er. Aber das konnten wir uns gar nicht vorstellen.“
An der Kleinen Freiheit habe ein Zettelverteiler vor der Deutschen Mitternachtsmission junge Leute angesprochen und sie beschworen, dass sie in den Häusern mit verschlossenen Fenstern nichts zu suchen hätten. Jedoch hätten die Angesprochenen sich bis auf einen vom Weg ins Bordell nicht abbringen lassen.
„So leid es mir tut: Sankt Pauli ist sehr brav und fast bürgerlich geworden. Der stöhnende Trubel der Inflation ist dahin“, schreibt er. Auch gebe es keine „Sailors“ mehr, „die vier Monate auf dem Meer mit dem Schiffszwieback und den Ratten und dem Kapitän allein waren und vier salzige Monate lang keine Frau mehr gesehen hatten; und es gibt nicht mehr diese tobenden Nächte und nicht mehr diese tobenden Verbrechen“, beschreibt Tucholsky seine Eindrücke. „Oder liegt es an uns, an unseren Augen?“
Die jungen Leute, die mit ihren Mädchen St. Pauli durchstreiften, betrachtet er als neu und unromantisch. Der Schauer vor dem „Laster“ sei dahin.
Tucholsky wünschte sich, dass die „sündige Meile“ sachlich, kühl, möglichst unromantisch und klar betrachtet werde; wie es mit den Geschlechtskrankheiten erst besser geworden sei, seit man ohne Schauer, dummes Grinsen oder moraltriefendes Gewäsch darüber sprechen dürfe. „So soll man auch soziologische Vorgänge: Prostitution, Arbeitslosigkeit von Angehörigen der Handelsmarine; Konzessionsentziehungen; Zwistigkeiten zwischen Leuten, die unter Polizeiaufsicht stehen, und der Polizei; Wohnungsnot; Alkoholkonsum; Vergnügungsbetrieb – kurz: St. Pauli –, so soll man auch dies sachlich betrachten. Man kommt weiter damit.“
Am Ende seines Reeperbahnbummels stand der Dichter auf dem leeren Gänsemarkt und blickte die enge Gasse mit dem Namen „Kalkhof“ hinunter, die nach Schließung der öffentlichen Häuser brav geworden war. „In meinen Ohren“, endet Tucholsky, „klingt noch wirre Musik von der Reeperbahn nachts um halb eins.“