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Archiv-Artikel

taz-serie fröhliche weihnacht (Teil 1): wie ein migrant das fest lieben lernte und warum er auf haiti feiert Familienfest mit Pute, Baum, Geschenken – und kleinen Konflikten

1972 kam Ümit Bayam aus der Westtürkei nach Berlin und sah zum ersten Mal einen Weihnachtsbaum. Heute ist das Fest Teil der Familientradition

Berlinerinnen und Berliner verschiedener Religionen, Lebensstile und Generationen entwickeln neue und eigene Formen, Weihnachten zu feiern. Die taz stellt einige davon vor.

Im Winter 1972 hat Ümit Bayam zum ersten Mal in seinem Leben einen Weihnachtsbaum gesehen. Wenige Wochen vorher war der damals Achtjährige aus einem 500-Einwohner-Dorf in der Westtürkei nach Kreuzberg gezogen. Und der Christbaum war der vor der Markthalle am Marheinekeplatz.

Den kleinen Jungen aus einer alevitischen Familie beeindruckte das vorweihnachtliche Geglitzer und Gefunkel und er lag seiner Mutter so lange in den Ohren, bis die auch einen Weihnachtsbaum kaufte. Die kleine Familie lebte in einer Kreuzberger 1-Zimmer-Wohnung.

„Ich weiß gar nicht mehr, wie wir die Kerzen damals am Weihnachtsbaum befestigt haben“, erzählt er. Gut jedenfalls nicht, denn der Baum brannte knapp zehn Minuten, nachdem die Kerzen entzündet wurden, ab. Ümit Bayams erster eigener Weihnachtsbaum landete als qualmendes schwarzes Gerippe auf dem Hof.

Heute ist der Einwanderer aus der Türkei längst deutscher Staatsbürger. Der 40-Jährige arbeitet als Stadtentwickler in Kreuzberg. Seine Familie hat die Weihnachtsbaumtradition beibehalten – mit verbesserter Technik. „Meine Mutter war immer sehr offen“, sagt Bayam. Die ausgebildete Lehrerin arbeitete in Berlin zunächst in der Fabrik. „Sie hat die Türkei auch deshalb verlassen, weil sie meinte, als Frau und alleinerziehende Mutter hier freier leben zu können.“

Ümit Bayam konnte seine Kenntnisse von einem ordentlichen Weihnachtsfest in den folgenden Jahren vertiefen. Zum einen im kirchlichen Hort, wo nicht nur in der Weihnachtszeit vor jedem Essen gebetet und mit dem schwarzhaarigen Jungen beim Krippenspiel gerne die Rolle des „Mohrenkönigs“ besetzt wurde.

Zum anderen in der Familie seines besten Schulfreundes, dem Sohn eines Kreuzberger Pastors. „Einen Monat vor dem Fest war Weihnachten dort schon zu spüren, zu riechen und zu hören.“ Den Weihnachtsbaum der Pfarrersfamilie holte der Vater selbst aus dem Wald. Geschmückt wurde ganz klassisch mit Strohsternen, Bastengeln und echten Wachskerzen.

Ümit Bayam hat diese Details nicht vergessen. Viele Jahre hat er in der evangelischen Familie die Weihnachtsfeste mitgefeiert. „Ich glaube, sie haben gar nicht gemerkt, wie sehr ich mich als Teil ihrer Familie empfand“, sagt er heute.

Ihm war als Kind gerade das Familiäre an den Weihnachtsfeiern wichtig: „Die Feste im Hort, bei denen alle Eltern und alle Kinder zusammenkamen, haben mich an unser Dorf erinnert.“ Dort, wo fast nur Angehörige seiner eigenen Familie lebten, standen dem Jungen alle Türen offen.

Das Weihnachtsfest ist heute ein fester Bestandteil der Bayam’schen Familientradition. Dazu gehören ein Weihnachtsbaum, möglichst viele Familienangehörige, eine von der Mutter zubereitete Pute (die nach Ümits Ansicht allerdings nie richtig gelingt) und Geschenke. In diesem Jahr werden die zum ersten Mal nach einer Wunschliste ausgesucht – das hat die Mutter bisher immer als „typisch deutsch“ abgelehnt.

Doch Ümit Bayam empfindet das Fest mittlerweile eher als Zwang. „Künstlich“ sei es doch, einfach zu sagen: „So, wir feiern jetzt Weihnachten!“ Vor allem seiner Mutter seien die Feste aber wichtig: als eine Gelegenheit, die Familie zu versammeln. Wie bei den Deutschen geht das auch bei den Bayams nicht immer konfliktfrei ab: „Weihnachten bricht’s aus“, sagt Ümit. „Aber wir raufen uns immer wieder zusammen.“

Er sucht nach Alternativen und hat schon eine Menge ausprobiert. Reisen ins weihnachtsfreie Indien etwa oder ins weihnachtswahnsinnige New York, Partys mit Freunden oder lange Kinonächte: „‚Alien‘, Teil 1 bis 3!“ Im vergangenen Jahr hat er zu Weihnachten einen Freund am Bodensee besucht: „Einfach ein leckeres Essen und nachher auf ein Bier in die Kneipe.“ Vorher hat Ümit Bayam allerdings der kleinen Kirche des Ortes einen Besuch abgestattet. „Die Kinder dort, die Ansprache des Pfarrers, das erinnert mich so schön an meine Kindheit.“ Und dieses Jahr wird Ümit Bayam Weihnachten auf Haiti verbringen. ALKE WIERTH