die taz vor zehn jahren über eine vorsätzliche vorweihnachtliche unbarmherzigkeit
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Eine Welle vorweihnachtlicher Barmherzigkeit muß es gewesen sein, die die Innenminister von Bund und Ländern jetzt erfaßte. Entlasten wollen sie die Staatsfinanzen von den Kosten eines milliardenschweren Gnadenaktes, befreien werden sie die deutsche Bevölkerung vom Joch einer aufgezwungenen Gastfreundschaft. Die ungebetenen Gäste (Schmarotzer?) sollen gehen. Jetzt kann man es ihnen ja ins Gesicht sagen, wie satt man sie hatte, denn jetzt sind sie zur Abschiebung ausgeschrieben.

Mehr als 300.000 Kriegsflüchtlinge aus Bosnien- Herzegowina sollen zum 1. April die Koffer packen, so haben es die Innenminister beschlossen. Zum frühesten aller möglichen Zeitpunkte wird man die Flüchtlinge hinauskomplimentieren.

Keinen Tag Gnadenfrist, keine Suche nach vernünftigen, behutsamen, sozial vertretbaren Lösungen. Kein Gedanke an Rückkehrhilfen, kein Versuch, die Situation der Flüchtlinge auch nur annähernd in Beziehung zu setzen zu der katastrophalen Lage ihres zerstörten Landes.

Die Innenminister haben sich anstandslos für die unmenschlichste und zynischste aller Varianten entschieden, und sie wissen es. Sie wissen, daß das Gros der Flüchtlinge nicht in eine Heimat zurückkehrt, sondern in ein gigantisches Flüchtlingslager. Sie wissen, daß die ethnischen Familien dort kaum einen Ort zum gemeinsamen Leben finden werden. Sie wissen um die Zerstörung des Landes. Und die Herren Minister wissen auch, daß sie selbst kein einziges Monatsgehalt verwetten würden für die Bestandskraft dieses brüchigen Friedens in Bosnien.

Nicht mal eine 24stündige Anstandsfrist wahren deutsche Politiker. Die Tinte auf dem Dayton-Abkommen war noch nicht trocken, da wich die Erleichterung über den Frieden schon dem fiskalischen Kalkül: Wo kein Krieg ist, gibt es auch keine Kriegsflüchtlinge mehr. Die erschöpften, traumatisierten Menschen wurden zu Gästen umdefiniert. 19. 12. 1995, Vera Gaserow