Auf die Plätze, fertig, los

BETREUUNG Ab August haben Eltern Anspruch auf einen Kitaplatz für Kinder ab einem Jahr. Doch schon jetzt sind die Wartelisten lang, die Wege oft zu weit. Künftig dürfte es in vielen Kiezen noch schwieriger werden, einen Platz zu ergattern

■ In Deutschland hat jedes Kind ab seinem dritten Geburtstag einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz.

Kinder unter drei Jahren haben derzeit nur ein Recht auf Kita, wenn die Eltern entsprechenden Bedarf anmelden können: weil sie erwerbstätig oder in der Ausbildung sind, oder wenn sie in einer Maßnahme vom Jobcenter beschäftigt werden.

■ Ab dem 1. August haben alle Kinder ab dem ersten Geburtstag einen Rechtsanspruch auf Kita-Betreuung – egal, ob die Eltern zu Hause sind oder nicht. Allerdings gilt der Rechtsanspruch nur für einen Halbtagsplatz. (akl)

VON ANNA KLÖPPER

Wiebke Löchelt war noch schwanger, als sie sich bereits auf die Suche nach einem Kitaplatz für ihr Kind machte. Sie tingelte durch 40 Neuköllner Kitas, ließ sich dort auf die Wartelisten setzen – und hörte doch immer das Gleiche: kein Platz. „Meine Tochter ist jetzt ein Jahr alt, das Elterngeld läuft aus. Eigentlich könnte ich nun wieder arbeiten gehen.“ Sie kann nicht. Sie passt zu Hause auf ihre Tochter auf.

Dabei hat Wiebke Löchelt Anspruch auf einen Kitaplatz für ihr Kind. Den haben alle Eltern von ein- bis unter dreijährigen Kindern, wenn sie Bedarf geltend machen können – etwa weil sie arbeiten müssen (siehe Kasten). Ab August tritt zudem der bedarfsunabhängige Anspruch auf einen Kitaplatz für Kinder ab einem Jahr in Kraft. Will heißen: Auch wer morgens nicht zur Arbeit muss, hat dann zumindest Anrecht auf eine Halbtagsbetreuung für sein Kind.

Nicht in die Wunschkita

Nur heißt Rechtsanspruch nicht, dass sich für suchende Eltern das in Berlin ebenfalls geltende „Wunsch- und Wahlrecht“ auf einen Kitaplatz erfüllt – was aber letztlich entscheidender für die Zufriedenheit sein dürfte. Denn: Wer gibt sein Kind in einer konventionellen Einrichtung ab, wenn er eigentlich Waldorf wollte? Wer kutschiert sein Kind morgens eine halbe Stunde durch die Gegend, weil es am anderen Ende der Stadt noch freie Plätze gibt? „Vielleicht bekommt nicht jeder die Wunschkita drei Straßen weiter“, sagt Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). „Aber das Jugendamt ist verpflichtet, einen Platz zu finden. Und so wird es auch gemacht.“

Als Wiebke Löchelt beim Neuköllner Jugendamt ihren Anspruch auf einen Platz für ihre Tochter geltend machte, fand man tatsächlich einen – in Rudow ganz im Süden. Die Krankenschwester Löchelt, die am nördlichen Ende des Bezirks wohnt, sagt: „Da hätte ich mein Kind um 5 Uhr in die Kita bringen müssen, um pünktlich um 6.30 Uhr zum Frühdienst an meinem Arbeitsplatz im Wedding zu sein.“

Scheeres begegnet solchen Erfahrungsberichten mit Zahlen. Knapp zwei Drittel der Ein- bis unter Dreijährigen seien bereits in Betreuung, bis Ende 2015 sollen es 70 Prozent sein. 20 Millionen Euro im Landesprogramm „Auf die Kitas, fertig, los!“ sieht der aktuelle Doppelhaushalt für den Aus- und Neubau von Kitas vor, letztes Jahr wurden davon rund sechs Millionen in knapp 2.300 neue Plätze investiert. Etwa 19.000 Plätze insgesamt sollen es bis Ende 2015 sein. Für ihre Bedarfsprognosen stützt sich die Senatsbildungsverwaltung auf Bevölkerungsentwicklung und Geburtenrate sowie auf bisherige Erfahrungswerte. Doch wie hoch der Bedarf ab August tatsächlich sein wird – das weiß keiner so richtig.

Es wird nicht reichen, sagt etwa die Grünenabgeordnete Marianne Burkert-Eulitz – weder das Geld noch die Plätze. Auch deshalb, weil Scheeres’ Vorgänger, Jürgen Zöllner (SPD), den Ausbau verschlafen habe. Schon jetzt, sagt die Sprecherin für Familie, Jugend und Kinder in Friedrichshain-Kreuzberg, herrsche ein Mangel an Kitaplätzen – obwohl die Senatsbildungsverwaltung von durchschnittlich 3 Prozent freien Plätzen pro Bezirk spricht.

Mangel trotz freier Plätze – das klingt paradox. Ist es aber nicht: „Durch Langzeitkrankschreibungen fehlen mir drei Erzieherinnen, deren Stellen ich nicht neu besetzen kann. Die muss ich aus der Planung rausrechnen“, sagt etwa Andreas Hoyer, Leiter der Kita Böhmische Straße in Neukölln.

„Natürlich kann man mit Zahlen spielen, bis jedes Kind irgendwo einen Platz hat“

MARIANNE BURKERT-EULITZ, GRÜNE

Bei freien Stellen hat Hoyer wiederum ein anderes Problem: zu wenige Bewerber, die zu schlecht qualifiziert seien (siehe Seite 41). Und da auch die Alters- und Geschlechtermischung der Kinder stimmen muss, heiße „freie Plätze“ nicht, dass sie auch für jeden verfügbar seien, der an sein Büro klopfe.

„Natürlich kann man mit Zahlen herumspielen, bis es für jedes Kind irgendwo einen Platz gibt“, sagt Burkert-Eulitz dazu. Doch damit das Wunsch- und Wahlrechtsprinzip funktioniere, sei ein rechnerisches Überangebot von 5 Prozent pro Bezirk nötig: „Man braucht mehr Luft im System.“ In der Finanzplanung des Senats für den Kitaplatzausbau gibt es die aber nicht. „Zudem sind die Kapazitäten für den Aus- und Umbau nahezu erschöpft“, sagt Burkert-Eulitz. „Nun muss neu gebaut werden, und das ist teurer.“ Ihre Fraktion fordert 100 Millionen Euro für den Kitaplatzausbau im nächsten Doppelhaushalt – 80 Millionen Euro mehr, als Scheeres derzeit ausgeben kann.

Luft im System, das klingt gut. Doch Andrea Barnow hatte plötzlich mehr davon, als ihr lieb war. Die Erzieherin sitzt im Kinderladen Libelle im nördlichen Prenzlauer Berg zwischen Puppenküche und Kuschelecke. Im März eröffnete sie mit drei Kollegen und rund 73.000 Euro aus Scheeres’ Landesprogramm ihren kleinen Kinderladen für 20 Kinder ab zwei Jahren. Helle, großzügige Räume, ein kleiner Garten – das kam bei den Eltern aus der Nachbarschaft gut an. „Wir hatten gut 80 Anfragen, insbesondere von Leuten, die eine familiäre Atmosphäre als Alternative zu den Großkitas suchten“, sagt Barnow. „Und dann haben uns einen Tag vor der Eröffnung rund ein Viertel der Eltern abgesagt, weil sie bereits woanders einen Platz gefunden hatten.“ Kitaleiter Hoyer erzählt Ähnliches.

Es sei eben oft nur ein „gefühlter Bedarf“ nach mehr Kitaplätzen, der bei den Eltern herrsche, sagt Senatorin Scheeres. Eltern ließen sich auf möglichst viele Wartelisten setzten, um ihre Chancen zu erhöhen. Und Kitas schienen so auf dem Papier am Rande der Kapazität – obwohl sie es vielleicht gar nicht sind. Das Chaos mit den Wartelisten will Scheeres nun in den Griff bekommen: Ab Herbst sollen die Listen mit einer Software zentral verwaltet werden (siehe Kasten).

Und doch: Schaut man sich den Bedarfsatlas der Senatsbildungsverwaltung (siehe Seite 41) für den Kitaplatzausbau an, ist die von den Eltern oft empfundene Mangelwirtschaft mehr Fakt als Gefühl. In 73 „Bedarfsregionen“ gibt es weniger Plätze als Kinder, so etwa fast im gesamten Bezirk Pankow. In den meisten dieser Gebiete wird zudem mit einem „steigenden Bedarf“ an Plätzen gerechnet. In 23 weiteren Regionen, etwa in großen Teilen von Friedrichshain-Kreuzberg, sind die Platzreserven nur noch „sehr gering“ – und schrumpfen weiter. Scheeres sagt, man mache die Verteilung von Fördergeldern über das Landesprogramm direkt vom Bedarfsatlas abhängig: „Das Prinzip Gießkanne funktioniert hier nicht.“

Horcht man in die Kitas hinein, funktioniert der Ausbau allerdings nicht so reibungslos, wie es die Dringlichkeit der Situation vermuten ließe. Neukölln-Rixdorf etwa ist als Region mit „sehr geringen Platzreserven“ ausgewiesen. Doch Kitaleiter Hoyer sagt, man wolle zwar ausbauen – könne aber keine Mittel aus dem Landesprogramm beantragen. Denn das Kitagebäude gehört dem Bezirksamt und wird als Schulgebäude geführt. Und Schulen, auch wenn sie gar keine sind, können keine Mittel für den Kitaplatzausbau beantragen. „Unser Träger versucht, dem Bezirksamt das Gebäude abzukaufen“, sagt Hoyer. Doch die Gespräche liefen langsam.

Finanzierung schwierig

Zuerst die gute Nachricht: ErzieherInnen finden in Berlin wahrscheinlich leichter Jobs als BewerberInnen jeder anderen Berufsrichtung. Fachkräfte in diesem Bereich werden geradezu umworben von Arbeitgebern – denn sie sind heiß begehrte Mangelware.

Und damit fangen auch schon die schlechten Nachrichten an. Denn sogar für die ErzieherInnen selbst ist der Personalmangel nur bedingt ein Vorteil. Er führe in vielen Kitas zu hoher Arbeitsbelastung, sagt etwa Christiane Weißhoff, Vorsitzende des Personalrats der landeseigenen Kitabetriebe City und Vertreterin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Weil viele Träger freie Stellen nicht besetzen könnten, steige die Belastung. Zudem könnten die etwa 2.000 QuereinsteigerInnen in der berufsbegleitenden Ausbildung viele Anforderungen noch nicht erfüllen, würden aber voll auf den Personalschlüssel angerechnet. Die Qualität der Arbeit leider darunter, so Weißhoff: „Dabei sind die Anforderungen an ErzieherInnen gerade in Berlin hoch.“

5 Prozent der Stellen seien unbesetzt, schätzt Weißhoff. Derzeit arbeiten etwa 21.000 ErzieherInnen in Berliner Kitas. Und der Bedarf an pädagogischen Fachkräften steigt: mit dem Anspruch auf einen Platz auch für Kinder, die jünger sind als drei Jahre, und den 19.000 neuen Plätzen, die Berlin bis 2015 dafür schaffen will. Knapp 4.500 ErzieherInnen, so die GEW, werden dafür gebraucht. Rechne man noch die aus Alters- und anderen Gründen ausscheidenden Kräfte dazu, erhöhe sich die Zahl sogar auf 7.650.

ErzieherInnen seien in Berlin „knapp“, gesteht auch die Senatsverwaltung für Bildung und Jugend ein. Man habe aber durch den Ausbau der Ausbildungskapazitäten früh reagiert. Die Zahl der AbsolventInnen habe sich von 1.000 im Abschlussjahr 2010 auf derzeit fast 1.500 erhöht. Aktuell befänden sich sogar 2.800 künftige ErzieherInnen im ersten Ausbildungsjahr.

Der Gewerkschaft reicht das nicht. Denn nur zwei Drittel der AbsolventInnen arbeiteten nach der Ausbildung in Kitas – und davon längst nicht alle in Berlin. Kaum die Hälfte des künftigen Bedarfs könne deshalb mit den derzeitigen Azubis gedeckt werden, rechnet die GEW vor.

Wolle Berlin nicht den Personalschlüssel oder die Qualitätsstandards ändern, „gehe ich davon aus, dass der Rechtsanspruch nicht in allen Fällen erfüllt werden kann“, sagt Personalrätin Weißhoff von der GEW. Sie fordert, die Ausbildungskapazitäten weiterzuerhöhen – und die Attraktivität des ErzieherInnenberufs zu steigern: „Das geht nur über bessere Bezahlung.“ Derzeit bekommen fertig ausgebildete BerufseinsteigerInnen 2.200 Euro brutto. Von mehr spricht die Senatsbildungsverwaltung bislang nicht. Eins versichert ihre Pressestelle aber: „Berlin verfolgt nicht den Weg, die Qualitätsstandards zu senken.“ ALKE WIERTH

Auch die Neugründung von Kitas geht oft nicht problemlos vonstatten. Babette Sperle, Sprecherin des Dachverbands Berliner Kinder- und Schülerläden (DaKS), sagt: „Von 200 Projekten in der Neugründungsberatung wurden letztes Jahr rund ein Drittel realisiert.“ Viele Initiativen hätten mit der Vorfinanzierung zu kämpfen, so die Erfahrung Sperles. Es gebe zwar die Zusage einer bestimmten Summe von Fördermitteln aus dem Landesprogramm. Doch bis das Geld dann kommt, könne es dauern. Zwischen Januar und März wurden die Mittel für den Kitaplatzausbau vom Finanzsenator zudem eingefroren. „Das hat uns schon unter Druck gesetzt“, sagt Kinderladengründerin Barnow. „Man schießt ständig vor und nimmt Kredite auf. Die Bauarbeiter wollen ja bezahlt werden.“

Zwei Drittel der Kinder, die Barnow mit ihren drei KollegInnen betreut, sind bereits jünger als drei Jahre. Und ab August? Barnow zuckt die Schultern. Es wisse ja ohnehin keiner genau, was dann passiere. Eine Erweiterung käme für sie nicht so schnell in Frage: „Wir erholen uns jetzt erst mal von der Eröffnung.“

Beim DaKS glaubt man jedenfalls nicht, dass die Berliner Jugendämter eine Klagewelle von suchenden Eltern fürchten müssen. „30 Minuten Fahrtzeit zum Betreuungsplatz gilt als gesetzlich vertretbar. Da findet sich in Berlin immer irgendwo ein Platz“, sagt Sprecherin Sperle.

Während die Jugendämter also aus dem Schneider wären, gilt das nicht für die Eltern. Denn selbst ein 30 Minuten entfernter Platz bedeutet nicht, dass die Situtation im Alltag praktikabel ist, wie Wiebke Löchelt erfahren hat. Jetzt hat sich die Krankenschwester für August einen Platz in einer Neuköllner Großkita mit langen Öffnungszeiten „erbettelt“, wie sie sagt: „Ich habe denen mein Dilemma mit dem Schichtdienst erklärt. Da kam dann bald die Zusage.“ So hat Wiebke Löchelt nicht nur einen Anspruch, sondern auch einen Platz, mit dem sie etwas anfangen konnte.