: Der Westen verliert die Türkei
BEITRITT Guido Westerwelles schönen Worten zum Trotz: Die Europäer verspielen die Chance, ihre Union im Sinne einer universellen Idee zu erweitern. Nachdem man den Türken zu oft die kalte Schulter gezeigt hat, formulieren sie nun eine neoosmanische Außenpolitik
VON JÜRGEN GOTTSCHLICH
„Who lost Turkey?“ Bereits im Dezember 2006 erschien das US-amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek mit dieser Frage auf dem Titel. Owen Matthews, Korrespondent des Blattes in Istanbul, machte in seinem Text kein Hehl aus seiner Auffassung, dass Europa dabei sei, eine der größten geopolitischen Chancen des Jahrhunderts zu verspielen. Die Türkei als Mitglied der EU – das wäre der gelebte Beweis gegen den Krieg der Kulturen, der Beleg für die universelle Gültigkeit von Werten wie Demokratie, Menschenrechten und individueller Freiheit. „Jeder von uns wäre mit dem Verlust dieser Vision ärmer. Es ist eines der größten Projekte der Zivilisation in unserer Zeit.“
Schon damals war die außenpolitische Elite der USA alarmiert. Auf einer hochkarätig besetzten Veranstaltung in Brüssel warf Richard Holbrooke, UN-Botschafter unter Clinton und heute wieder Sonderbotschafter für Afghanistan, den Europäern vor, sie verstünden nicht, welche Bedeutung die Türkei habe. „Die Türkei“, sagte Holbrooke, „ist für uns heute, was Deutschland im Kalten Krieg war. Der entscheidende Frontstaat für den Westen in der Auseinandersetzung mit dem Osten. Die Regierungen im Nahen und Fernen Osten schauen genau hin, wie der Westen mit der Türkei umgeht.“
Das war vor drei Jahren. Erst ein Jahr zuvor hatten die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU offiziell begonnen. Bald darauf kamen die Verhandlungen kaum noch vom Fleck. In Frankreich führte Nicolas Sarkozy seinen Wahlkampf unter anderem mit dem Versprechen, er werde dafür sorgen, dass die Türkei niemals EU-Mitglied werde, in Deutschland ließ Angela Merkel die CSU und Teile der CDU lauthals gegen den Beitrittskandidaten vom Bosporus pöbeln. In Österreich kämpfte eine Allparteienkoalition ihre imaginäre Schlacht gegen die Türken vor Wien, die es angeblich darauf anlegten, die Stadt auf diplomatischem Weg zu erobern.
Der Jahrhunderttraum
Doch immerhin, Merkel verkündete eins ums andere Mal, sie fühle sich selbstverständlich den bestehenden Verträgen verpflichtet. Österreich befand sich sowieso im Haider-Wahn, und bei Sarkozy konnte man sich damit beruhigen, dass nichts in der Regierung so heiß gegessen wird, wie es im Wahlkampf gekocht wurde. Auch wenn die EU-Begeisterung in der Türkei allmählich erlahmte, warb Außenminister Abdullah Gül unermüdlich für den nächsten Schritt. Sein Ministerpräsident Erdogan verkündete immer noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die Mitgliedschaft der Türkei in der EU sei die oberste politische Priorität seiner Regierung.
Denn die Türkei schien einem Jahrhunderttraum so nah wie nie zuvor. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts war das Osmanische Reich politisch auf Europa ausgerichtet. Alle bürgerlichen Bewegungen gegen die absolute Monarchie verfochten Modelle einer konstitutionellen Monarchie, die sie aus Europa importieren wollten. Bei Gründung der türkischen Republik stand Europa in vielfacher Form Pate. Für Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründervater der Republik, war Europa die einzige Zivilisation, die diesen Namen verdient. Die Türkei sollte ein Teil davon werden. Die Sehnsucht, ein Teil Europas zu sein, war so allumfassend, dass es auch für die Regierung der islamischen AKP, die bei den Wahlen im November 2002 die absolute Mehrheit im Parlament erreichte, selbstverständlich war, an die Bemühungen der vorherigen Regierung anzuknüpfen. Diese hatte 1999 erstmals erreicht, dass die Türkei formal als EU-Beitrittskandidat nominiert worden war.
Tatsächlich schien es drei Jahre lang so, als könnte der Traum wahr werden. Gerhard Schröder und Jacques Chirac waren sich bei allen Meinungsverschiedenheiten mit George Bush und Tony Blair an einem Punkt vollkommen einig: Die politische Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 musste sein, die Türkei zum EU Mitglied zu machen und damit zu zeigen, dass der Westen und ein mehrheitlich von Muslimen bewohntes Land kein Gegensatz sein müssen. Zu diesem politischen Ziel passte es sogar besonders gut, dass die Türken 2002 erstmals eine Regierung gewählt hatten, die von einer moderat islamischen Partei gestellt wurde, und dass ausgerechnet diese Regierung vehement in die EU drängte. Es war nichts weniger als eine außenpolitische Traumkonstellation.
Heute, 2010, muss man sagen: der Westen, genauer die EU, ist im Begriff diese Chance zu verspielen. George Bush hat die Integration der Türkei mit seinem Krieg gegen den Irak konterkariert, aber die EU hat sie vertändelt. Das Schlimme ist, dass weite Teile der EU nicht begreifen, welche Chancen sie dabei sind, verstreichen zu lassen.
Die weiche Weltmacht
Mit dem Ende des Kalten Krieges stellte sich für die Nato wie für die EU die Sinnfrage. Owen Matthews formulierte das in Newsweek so: „Europa ist entweder eine Ideologie oder ein Territorium.“ Die Ideologie, die Idee von Europa, ist das Zusammenwachsen von Nationalstaaten auf freiwilliger Basis mit dem Ziel, Demokratie und Wohlstand zu verbreiten. Statt Kolonialismus und Imperialismus soll ein Club freiwillig kooperierender Staaten im Interesse aller Beteiligten gebildet werden: eine nie da gewesene „weiche Weltmacht“. Bezogen auf Osteuropa stimmten Idee und Territorium überein, man musste sich nicht entscheiden. In Bezug auf die Türkei ist die territoriale Frage strittig, man müsste sich für die Idee entscheiden. Doch Europa will sich lieber auf ein Territorium begrenzen, als eine Idee zu leben.
Die Folgen davon sind bereits unübersehbar. Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan nennt nun Mahmut Ahmadinedschad statt des deutschen Bundeskanzlers seinen besten Freund. In der Auseinandersetzung um das iranische Atomprogramm verteidigt er geradezu aggressiv das Recht des Irans, eigene Atomanlagen zu betreiben. Kaum ein arabischer Regierungschef griff Israel wegen des Gazakriegs so massiv an wie der Chef des Nato-Staats Türkei, und kein anderer Nato-Staat pflegt so enge Bindungen an Russland wie die Türkei unter Erdogan. Dafür gibt es zwar auch sachliche Gründe wie die Energieabhängigkeit der Türkei von Russland und Iran, die Debatten in der Türkei zeigen jedoch, dass es um einen klaren Paradigmenwechsel geht.
Nachdem man den Türken in Europa immer wieder die kalte Schulter gezeigt hat und das Land ein ums andere Mal den Revanchegelüsten zypriotischer Provinzpolitiker auslieferte, hat die Türkei ihre Konsequenzen gezogen und eine neue, so genannte neoosmanische Außenpolitik formuliert. Statt weiterhin Fußabtreter für Politiker westeuropäischer Ministaaten zu sein, die in Ankara häufig in ziemlich dümmlicher Form Wohlverhalten einklagen, versucht man nun lieber, die führende Regionalmacht an einer geopolitischen Nahtstelle zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten zu werden. Statt weiterhin auf die europäische Idee zu setzen, will man nun seinerseits seine territorialen Karten optimal ausspielen. Da ist dann im Zweifel Putin sehr viel willkommener als ein namenloser Belgier oder Tscheche als Vertreter der EU. Den meisten in der EU ist das egal. Auch wenn Guido Westerwelle jüngst in Ankara versucht hat, die Beziehungen wieder neu zu beleben, ist doch unübersehbar dass Merkel über die Abwendung der Türkei von der EU eher froh ist, weil sie so wieder einmal einen Konflikt aussitzen kann, ohne sich engagieren zu müssen. Damit verrät sie die europäische Idee.
Der EU-Club ist christlich
Das wird Folgen haben. Nicht nur im Sinne amerikanischer Realpolitiker, die einen „Corner Stone“ des Westens in die falsche Richtung fallen sehen, sondern vor allem für die Idee, dass Menschenrechte, Demokratie und Wohlstand für alle da sein sollten und dass die ihnen zugrunde liegenden Rechte universell sind. Die Türkei fallen zu lassen bedeutet für den Rest der nichtwestlichen Welt: Der Club ist doch exklusiv, christlich exklusiv, wie die meisten darüber hinaus denken werden. So verliert Europa seine Faszination in der Welt, so wie die USA ihre Kriege verlieren. Das ist vor allem für den Westen eine schlechte Botschaft.