SOLLEN DIE DEUTSCHEN IM IRAK NACH DEUTSCHLAND ZURÜCKKEHREN? NEIN : Die Schuldfrage wird vorbereitet
Wer sich freiwillig in Gefahr begibt, ist an einer Notlage selbst schuld – warum sollen die Steuerzahler dafür aufkommen? Es gibt viele Leute, die diese Ansicht streitbar, ja sogar aggressiv vertreten. Und keinen Widerspruch dazu sehen, dass sie dennoch durchaus der Meinung sind, Hilfsbedürftige in Kriegsgebieten sollten unterstützt werden. Diese Leute werden es ganz richtig finden, dass das Auswärtige Amt als Konsequenz aus der Entführung von Susanne Osthoff erneut alle Deutschen aufgefordert hat, den Irak zu verlassen. Dabei ist diese Aufforderung zum gegenwärtigen Zeitpunkt sinnlos. Schlimmer noch: Sie ist populistisch, weil sie nämlich dem jeweiligen Einzelfall nicht gerecht werden kann. Bei den im Irak lebenden Deutschen geht es aber nur noch um Einzelfälle.
Es ist ja nicht so, als ob derzeit dort tausende von Aussteigern ihr Glück suchten oder als ob eine Karawane von Kleinwagen mit privat gesammeltem Kinderspielzeug nach Bagdad unterwegs wäre. Etwa hundert Deutsche wohnen noch in dem Land, die meisten wegen familiärer Bindungen. Ist es unverantwortlich, wenn die deutsche Ehefrau eines Irakers bei Mann und Kindern bleiben will? Ist es unverantwortlich, wenn der Ehemann seine Existenz nicht aufgeben will, um sich als Flüchtling in die Bundesrepublik zu begeben?
Aufrufe zur Ausreise aus einem Krisengebiet sind dringend geboten, sobald eine Lage sich zuspitzt oder es zu einem unerwarteten Ausbruch von Gewalt kommt. Davon kann im Irak keine Rede sein. Die Deutschen dort muss man nicht darüber informieren, dass die Situation gefährlich ist. Das wissen sie. Vor diesem Hintergrund scheint die Warnung des Auswärtigen Amtes vor allem auf billigen Beifall im Inland zu zielen – und soll wohl außerdem für mögliche künftige Entführungsfälle die Schuldfrage vorbeugend klären. Verständlich, aber wenig hilfreich. Schon gar nicht für die Entscheidung, ob jemand ausreisen sollte.
Schwierig ist eine solche Entscheidung nicht nur im Hinblick auf individuelle Schicksale, sondern auch auf humanitäre Aktionen. Gewalttätern, die das Ziel einer vollständigen Isolation des Irak vom westlichen Ausland verfolgen, kann man gar keinen größeren Gefallen tun, als die Ausreise zum Prinzip zu erklären. Das wäre ein größerer Teilsieg als jede noch so hohe Lösegeldzahlung.
Gehen oder bleiben? Im Rückblick ist es oft der Erfolg, der eine Entscheidung als richtig oder falsch erscheinen lässt. Nach Ausbruch der Kämpfe in Mogadischu 1991 haben vorübergehend alle Ausländer die somalische Hauptstadt verlassen. Bis auf Willi Huber, den Leiter des SOS-Kinderdorfs. Das Dorf gibt es noch heute. Es wurde auch von den Anwohnern der Umgebung geschützt, die den Arbeitgeber so wenig verlieren wollten wie den letzten Zugang zu medizinischer Versorgung und, etwas später, die einzige kostenlose Schule der Umgebung. Willi Huber hat überlebt und für seinen Mut viel Anerkennung erfahren. Und wenn er getötet worden wäre? Wäre er daran „selbst schuld“ gewesen? SOS war schon jahrelang in Somalia tätig gewesen, als die Kämpfe ausbrachen. Nicht nur einzelne Mitarbeiter, sondern auch die Organisation insgesamt verfügt über viel Erfahrung mit der Arbeit in Krisengebieten. Professionalität und Landeskenntnis sind wichtige, vielleicht die einzigen Kriterien für verantwortliche Entscheidungen im Zusammenhang mit Nothilfe.
Es reicht nicht, einfach nur guten Willens zu sein und ein großes Herz zu haben. Wer meint, Hilfsbereitschaft alleine genüge, richtet oft mehr Schaden an als Nutzen. Übrigens nicht nur in Kriegsgebieten. Andererseits aber sollten Behörden wie das Auswärtige Amt die Erfahrung professioneller Helfer nicht gering schätzen. Das Internationale Rote Kreuz braucht für eine Analyse der Situation keine öffentlichen Ratschläge von Diplomaten. Sondern Geld. Wie auch das Auswärtige Amt dieser Organisation gerade erst zusätzliche Mittel für den Einsatz im Irak zukommen ließ.
Ob Susanne Osthoff die hohen professionellen Anforderungen erfüllt, die an Arbeit in einem Kriegsgebiet gestellt werden müssen, können derzeit wohl nur Fachleute beurteilen. Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber selbst wenn nicht: Dann sagt das noch gar nichts über die wenigen anderen im Irak verbliebenen Deutschen und deren Motivationen aus. BETTINA GAUS