: Beifall für den Habana Blues
Für Kubaner ist dieses Festival ein Fensterzur Welt, für europäische Filmkritiker so etwas wie eine Zeitreise – auf Kuba ist das Kino noch Unterhaltungsmedium Nummer eins. Gemischte Eindrücke vom 27. Filmfestival in Havanna
VON CRISTINA NORD
Tito explodiert. „Ich bin 28 Jahre alt. Ich habe diese Scheißinsel noch nie verlassen. Ich hab’s satt.“ Tito (Roberto Sanmartín), eine der beiden Hauptfiguren in Benito Zambranos Spielfilm „Habana Blues“, ist Gitarrist. Auf Kuba hat er mit seiner Band keine Perspektive, professionell zu arbeiten. Der Wagen, den er als Taxi nutzt, macht es nicht mehr lange, stammt er doch aus den frühen 50er-Jahren. Tito will nach Madrid gehen, obwohl sich das zunächst so verheißungsvoll scheinende Angebot der spanischen Plattenfirma als Knebelvertrag herausstellt.
Dass „Habana Blues“ im Wettbewerb des 27. Festivals für den Neuen Lateinamerikanischen Film in Havanna gezeigt wurde, ist eine mutige Entscheidung des Auswahlkomitees rund um den Festivaldirektor Iván Giroud. Orthodoxen Kulturfunktionären freilich dürfte der Film nicht gefallen haben. Denn zu deutlich ist darin das Unbehagen an der kubanischen Gegenwart spürbar, zu unverhohlen ausgesprochen wird der Wunsch, die Insel zu verlassen. Der Regisseur, ein Spanier, der lange auf Kuba gelebt und an der renommierten Filmhochschule Escuela Internacional de Cine y Televisión (EICTV) in San Antonio de los Baños studiert hat, hat Tito zwar eine Gegenfigur zur Seite gestellt – den Sänger Ruy (Alberto Yoel), der nicht fortgehen will, weil er zu sehr an Havanna hängt. Dennoch hallt Titos Ausbruch nach, und das Publikum ist bei der Vorführung in der Sala Chaplin ergriffen. Manche weinen, am Ende stehen alle auf, um Beifall zu klatschen. „Habana Blues“ trifft einen Nerv, sodass weder die konventionelle Machart noch die dramaturgischen Schwächen die Begeisterung trüben. Ein kubanischer Kritiker schwärmt: „Genau wie im Film ist es im Augenblick auf Kuba.“
Im 46. Jahr nach dem Triumph der Revolution ist Havanna eine Stadt der Gegensätze, Widersprüche und Rätsel. Ein paar Straßenzüge und Häuserblocks in der Altstadt sind prachtvoll herausgeputzt. Wer aber von der Plaza Vieja aus 200 Meter nach Westen geht, findet die gleiche koloniale Architektur, mit dem Unterschied, dass die Häuser hier dem Verfall preisgegeben sind. Im Hotel Nacional, einem Fünf-Sterne-Hotel, das während des Festivals als dessen Sitz dient, werden Che-Guevara-Devotionalien angeboten wie Bären-T-Shirts in Berlin. An den Ausfallstraßen ermahnen Billboards dazu, Strom zu sparen, während in den Kinos die Klimaanlagen so unnachgiebig arbeiten, dass das kubanische Publikum Mäntel oder Wollpullover mitbringt. Die ausländischen Besucher erkälten sich – ganz gleich, ob sie aus Berlin, Montevideo oder Santiago de Chile anreisen. Sobald sich Gespräche allzu deutlich auf Politik beziehen, verebben sie schnell. Doch über vieles andere wird erstaunlich offen geredet – etwa darüber, dass sich cinephile Kubaner Filme über illegal betriebene Videoclubs beschaffen, oder darüber, dass der zurzeit über Kubas Grenzen hinweg renommierte Regisseur Fernando Pérez auf der Insel selbst als konterrevolutionär gilt. Seine Filme dürfen nicht im Fernsehen laufen, obwohl etwa „Suite Habana“ vor zwei Jahren den Hauptpreis des Festivals erhielt.
Zu den Widersprüchen gehört die doppelte Währung. Es gibt die Moneda Nacional und den Peso Convertible. Sein Monatsverdienst, erzählt ein für die Filmauswahl zuständiger Mitarbeiter des Festivals, liegt bei 400 kubanischen Pesos. Früher konnte man davon gut leben. Heute nicht mehr. Denn heute sind 400 kubanische Pesos 15 Pesos Convertibles, also etwa 15 Euro. Dafür kann man entweder eine dicke oder zwei dünne handgerollte Zigarren kaufen, zweieinhalb Stunden im Internet surfen oder eine DVD mit Humberto Solás’ Klassiker „Lucia“ erstehen, und als Caridad, eine der Figuren in „Habana Blues“, ein Pfund Fleisch kauft, muss sie 22 Pesos Convertibles dafür ausgeben. Wer nicht an die Trinkgelder der Touristen herankommt oder ab und zu für eine ausländische Zeitung oder Universität tätig ist, muss sehen, wo er bleibt.
Eine Kinokarte freilich kostet gerade mal zwei Pesos – Moneda Nacional. Schade, dass im Jahr nur 30 bis 40 Filme als 35-Millimeter-Kopie in die Kinos kommen. Wer mehr sehen möchte, greift auf die Videoclubs zurück, oder er freut sich, weil es das Internet gibt. Filmpiraterie ist in einem Land wie Kuba eine wichtige Möglichkeit, Filme zu sehen, die den Weg in die Kinos nicht finden. Dass das viele sind, liegt weniger an Zensur als vielmehr daran, dass kein Weltvertrieb großes Interesse daran hat, einen Film in einem Land zu verleihen, in dem die Kinokarte umgerechnet 0,075 Eurocent kostet.
„Das Festival“, sagt ein kubanischer Filmkritiker, „ist wie ein Fenster zur Welt.“ Nicht allein wegen der Filme, die für zehn Tage im Dezember im Cine Payret, im Cine Acapulco oder im Cine Yara gezeigt werden, diesen großen, in den 50er-Jahren erbauten Sälen. Sie fassen mehrere hundert Leute, manche über tausend. So zerschlissen die Bestuhlung sein mag, so sehr es sich empfiehlt, die Toiletten zu meiden, so vermitteln sie doch ein wunderbares Gefühl davon, wie sehr sich Menschen von einem Film begeistern lassen können. In Havanna ins Kino zu gehen hat etwas von einer Zeitreise, befindet man sich doch an einem Ort, an dem das Kino noch Unterhaltungsmedium Nummer eins ist. Ein Fenster ist das Festival für den kubanischen Kollegen aber vor allem, weil Besucher aus dem Ausland da sind und es Austausch gibt, Gespräche, Kontakte. Sogar aus den USA reist der eine oder andere unerschrockene Filmkritiker an – obwohl es die von der Bush-Regierung noch einmal verschärften Embargogesetze Reisenden aus den USA enorm erschweren, die Karibikinsel zu besuchen.
Schade nur, dass die Filmauswahl nicht überzeugte. Von den 19 Spielfilmen im Wettbewerb konnten nur wenige für sich einnehmen. „Ein schlechtes Jahr für den lateinamerikanischen Film“ sei 2005, sagt mehr als einer der Programmgestalter. Was die drei kubanischen Wettbewerbsbeiträge anbelangt – Humberto Solás’ „Barrio Cuba“, Manuel Herreras „Bailando Cha Cha Chá“ und „Viva Cuba“ von Juan Carlos Cremata und Iraida Malberti Cabrera –, reibt man sich denn auch verdutzt die Augen. Besonders „Barrio Cuba“ enttäuscht, da Solás sich bereitwillig den Erzählmustern und Charakterzeichnungen der Telenovela hingibt. Was ein schöner Episodenfilm über einen Stadtteil im Osten Havannas hätte werden können, reich an Alltagsbeobachtung und leiser Skepsis, neigt zum Overacting. Alle Subtilität ist diesem Kino fremd.
Solás ist nicht der einzige Regisseur, der sich am Format der Telenovela die Finger verbrennt. Besonders ärgerlich gerät die Nähe zum Fernsehen in einem venezolanischen Film, „El Caracazo“ von Román Chalbaud. „El Caracazo“ erzählt davon, wie Fahrpreiserhöhungen im Februar 1989 zu spontanen Protesten der Bevölkerung führten – und wie das Militär die Protestierenden brutal niederschoss. Wie so oft in Lateinamerika sind die verantwortlichen Politiker und Militärs nicht zur Rechenschaft gezogen, die Überlebenden nicht entschädigt worden. Das ist schlimm, und schlimm ist auch, dass es so wenig Öffentlichkeit dafür gibt. Was aber dabei herauskommt, wenn sich das Kino der unterdrückten Geschichte annimmt, ist in Chalbauds Fall nichts anderes als Schmierentheater. Wann immer eine Figur zu einem politischen Diskurs anhebt, glaubt man sich im Frontalunterricht. Dass ein tatsächliches Verbrechen in einer so unreflektierten Form in die Fiktion übertragen wird, grenzt ans Obszöne. Besser steht es um den Film, der schließlich den Premio Coral entgegennehmen durfte, „Iluminados por el fuego“ („Vom Feuer erleuchtet“) aus Argentinien. Der Regisseur Tristán Bauer revidiert darin den Falklandkrieg aus einer antinationalistischen Perspektive. Das ist ein Kino der guten Absicht, das man schon zu oft gesehen hat. Der Zwang, politische Aussagen zu treffen, lastet mithin schwer auf dem lateinamerikanischen Kino. In Havanna gewinnt man bisweilen den Eindruck, dass ein Film, sobald er ästhetisch überzeugt, bereits Verdacht erregt. Denn leicht zieht er den Vorwurf der Kälte, des Manierismus oder eines Mangels an Identität auf sich. „El aura“ zum Beispiel, ein kühler Thriller des argentinischen Regisseurs Fabián Bielinsky, rief solche Kritik hervor. Man merke dem Film nicht an, dass er aus Argentinien stamme, monierte ein Mitglied der Jury, der argentinische Regisseur Alberto Lecchi. „El aura“, so Lecchi, behandele nichts, was nicht auch eine US-amerikanische Produktion behandeln könne, und sehe überdies genauso aus. Doch die reflexhafte Abwehr eines Kinos, das sich mit Hollywood in Verbindung bringen lässt, verstellt den Blick. „El aura“ legt ein feines Gespür für Motive fantastischer argentinischer Literatur an den Tag, und er treibt mit den Spiegelungen von Motiven und Figurenidentitäten ein virtuoses Spiel.