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Archiv-Artikel

Lieber streng als großzügig

Da der deutsche Konservatismus ratlos ist, nimmt er sich George Bushs „Compassionate Conservatism“ zum Vorbild. Doch der ist praktisch wie ideenpolitisch bereits gescheitert

Bush und seine Theoretiker predigen: Man braucht stets Liebe und Disziplin

Was bedeutet Konservatismus heute? Diese Frage hat die eher angestrengt wirkende Debatte vor und nach den Bundestagswahlen nicht beantwortet. Da liegt es nahe, sich am US-amerikanischen Konservatismus zu orientieren, der derzeit weltweit am erfolgreichsten scheint – zumindest gemessen an Wahlergebnissen. Der neue Parteiführer der britischen Tories hat sich daher als Repräsentant eines „modernen mitfühlenden Konservatismus“ definiert und sich dabei George W. Bushs „Compassionate Conservatism“ (Comcon) zum Vorbild genommen.

Auch in Frankreich haben einflussreiche Intellektuelle wie Pierre Manent als Reaktion auf die Ausschreitungen in den Vorstädten eine neue Mischung aus „Großzügigkeit und Strenge“ angemahnt, welche offenbar von den amerikanischen Comcons inspiriert ist. Dabei ist der Konservatismus des Mitgefühls nicht einfach reaktionäre Augenwischerei, wie man vor allem in Deutschland oft denkt. Die Ideen dahinter sind nicht uninteressant – doch sowohl in der Praxis als auch ideenpolitisch ist dieser Konservatismus in den USA bereits gescheitert.

Der mitfühlende Konservatismus gerät aus deutscher Sicht leicht unter doppelten Ideologieverdacht: Zum einen lenkt er geschickt davon ab, dass die Republikaner in den USA munter weiter versuchen, den ohnehin nicht starken Wohlfahrtsstaat zu demontieren und von unten nach oben umzuverteilen. Zum anderen erscheint er vor allem als geschicktes ideenpolitisches Manöver, das Image von kaltherzigen „Gier ist gut“-Ideologen loszuwerden. Dies hat sich in den Achtzigerjahren gebildet und mit der extrem libertären Politik eines Newt Gingrich noch verschärft, der die ganze Regierung lahm legte.

Der neue, staatsfreundlichere Konservatismus, so diese Variante des Ideologieverdachts, sollte es den Rechten ermöglichen, wieder eine wirkliche Regierungspartei zu werden – was man als pure Antisystempartei nun einmal nicht konnte. Doch de facto bleibe es bei einem Neoliberalismus, oder präziser: libertarianism – mit etwas menschlicherem Antlitz. Und in der Tat lesen sich viele Belege für eine solche Interpretation des Comcon als wichtige Waffe im Kampf um die Deutungsmacht positiver Gefühle in der Politik finden: Schon 1999 stand im Wall Street Journal zu lesen, man muss den Demokraten vor allem den „rhetorischen Vorteil“ nehmen, die Partei der Gutherzigen zu sein.

Es gilt, zwei Strömungen unter den Comcons zu unterscheiden: Zum einen findet sich eine weite Definition von Konservatismus des Mitgefühls, der auf eine Stärkung der Zivilgesellschaft zielt und sich auf die Idee einer Hilfe zur Selbsthilfe konzentriert. Hier ist der Gedanke zentral, es müsse eine Art Markt von „Wohlfahrtsanbietern“ geschaffen werden, unter denen die Bedürftigen auswählen könnten. Bürgern werden also in Konsumenten umdefiniert.

Mit Mitgefühl hat diese weite Definition des neuen Konservatismus nur sehr indirekt etwas zu tun. Allenfalls ließe sich behaupten, wer sich wirklich kümmere, der vertraue auf Markt und zivilgesellschaftliche Konkurrenz, da allein diese Effizienz und damit wirkliche Wohlfahrt sicherstellen könnten. Auch schließt hier der Gedanke an, Wohlfahrt müsse immer konkret für Geber und Nehmer sichtbar sein. Ein urkonservativer Topos ist bekanntlich die Überlegenheit des Konkreten über das Abstrakte und Anonyme. So scheuen sich konservative Intellektuelle denn auch nicht, den angeblich unbürokratischen Konservatismus des Mitgefühls als eine Art moralische Erziehung für Arme wie für Reiche zu deuten.

Anschlussfähig sind hier aber auch die Idee der Subsidiarität und die Vorstellung von moralischen Pflichten als einer Abfolge konzentrischer Kreise, die zuerst die Familie einschließen, sich dann auf die Nachbarschaft, die Stadt und schließlich immer weiter ausdehnen. Solch eine moralphilosophische Perspektive findet sich bereits bei Edmund Burke.

Nun gibt es aber auch noch eine enger gefasste Deutung des mitfühlenden Konservatismus, der vor allem auf staatliche Unterstützung von religiösen Wohltätigkeitsorganisationen abzielt. Diese Idee ging nicht nur von Evangelikalen in den USA aus, sondern auch von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen namhafter Soziologen wie John DiIulio. Er hatte einen empirisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen Kriminalitäts- und Armutsbekämpfung auf der einen Seite und der Rolle von Kirchen auf der anderen gefunden. Als gewissenhafter Soziologe hütete er sich aber davor, allzu schnell Gesetzmäßigkeiten zu verkünden. Dafür glaubte DiIulio Anfang 2001 Gelegenheit zu haben, seine Hypothesen in der Praxis zu testen. Bush ernannte ihn zum Direktor des neu geschaffenen „Office of faith-based initiatives“. Doch für aussagekräftige Langzeitstudien reichte es allein schon deshalb nicht, weil John DiIulio das Weiße Haus nach wenigen Monaten offenbar zutiefst frustriert verließ. In Statements, die er später mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückzog, behauptete der Soziologe, alle Initiativen seien seitens des wichtigsten Präsidentenberaters Karl Rove rein politisch bewertet worden. Der wirkliche Erfolg „glaubensbasierter“ Maßnahmen habe niemanden interessiert.

Mit Mitgefühl hat diese weite Definition des neuen Konservatismus nur sehr indirekt etwas zu tun

Bald zeigte sich auch ein partei- und ideenpolitisches Problem: Für die Libertarians war dem mitfühlenden Konservatismus zu viel Staat beigemischt; für die Evangelikalen drohte die Gefahr, der Staat würde früher oder später diktieren, dass Kirchen zum Beispiel auch Homosexuelle einstellen müssten, wollten sie weiter Zuschüsse erhalten. So hatten beide Flügel der Republikaner letztlich Vorbehalte gegenüber den Comcons. Damit ist aber auch fraglich, wo sich denn die Vision überhaupt verwirklichen lässt, wenn nicht in den USA, die der Kommunitarist William Galston als eine Gesellschaft „toleranter Traditionalisten“ bezeichnet hat.

Sind nun die Grundideen des mitfühlenden Konservatismus widerlegt? Entfremdungseffekte des Wohlfahrtsstaates haben auch linke Theoretiker schon lange festgestellt. Und eine aktive Bürgergesellschaft ist auch ein linksliberales Wunschbild. Welche Rolle hier religiöse Organisationen spielen – darüber lässt sich diskutieren. Viel fraglicher sind die mehr oder weniger subtilen Schammechanismen, dessen sich der mitfühlende Konservatismus bedienen möchte. Denn die Comcons stimmen gerade nicht mit vier Philosophen aus Liverpool überein, dass es nur der Liebe bedürfe. Statt „All you need is love“, predigten Bush und seine Theoretiker: Man braucht stets Liebe und Disziplin. Und Disziplin entstehe dadurch, dass man Hilfsempfänger dauernd dem Blick konkreter Geber aussetze. Es bedarf keiner Foucault’schen Optik, um diese totale Moralisierung und Individualisierung aller Gesellschaftsprobleme als höchst problematisch zu erkennen. Eine ernsthafte Prüfung von Comcon als mögliches Importprodukt für Europa sollte denn auch hier und bei der Frage nach empirisch messbaren Erfolges ansetzen. JAN-WERNER MÜLLER