: Die neue Patchwork-Politik
Das Jahr 2005 hat gezeigt: Die Parteien sind politisch und programmatisch entmachtet. Das ist für sie ein Problem – und eine Chance für einen modernen Wohlfahrtsstaat
Die wichtigsten Ereignisse des Jahres haben die Parteien völlig unvorbereitet getroffen. Ja, sie bilden nicht mehr einen politischen Willen, sie vollziehen ihn nur noch. Das war so bei der Entscheidung über die Neuwahlen oder auch beim letzten Vorsitzendenwechsel der SPD. Das war vor allem so bei der Agenda 2010.
Ebenso bei der CDU. Den Kurswechsel Ende 2003 haben zwar Regionalkonferenzen vermittelt, ein Parteitag hat ihn beschlossen. Wichtiger aber waren eine entschlossene Vorsitzende, ein Expräsident und seine Kommission. Und: Unternehmensberater, die der CDU eine betriebswirtschaftliche Logik überstülpen wollten.
Nun ist das „eherne Gesetz der Oligarchie“ (Robert Michels) nicht neu, sondern bald hundert Jahre alt. Aber so schamlos wurde Parteien selten demonstriert, dass es auf sie eigentlich nicht wirklich ankommt. Der Vorhang der Illusionen ist weggezogen. Künftig werden kurzfristige Ideen wichtiger als Programme, Akteure wichtiger als Parteien und intelligente Vielfalt wichtiger als falsche Geschlossenheit. Es entsteht eine Patchworkpolitik neuer Art.
Die CDU bietet dafür ein gutes Exempel. Eine Partei, die aus dem Stand die Reformbarrikaden stürmt, um nach der Wahl die Fahnen wieder einzurollen, ist schwer auszurechnen. Für die Entwicklung der CDU wird das Regierungshandeln in Bund und Ländern wichtiger sein als irgendwelche Parteikonvente. Wenn Hessen Gefängnisse oder Kliniken teilprivatisiert, wird über die Rolle des Staates verhandelt – und wie er im 21. Jahrhundert öffentliche Verantwortung am besten wahrnimmt. Eine Schulreform in Nordrhein-Westfalen sagt etwas darüber aus, wie ernst es der CDU ist mit Subsidiarität, Dezentralisierung und sozialer Offenheit.
Wenn die Familienministerin das Elterngeld mitsamt den beiden Vätermonaten in Regierung und Parlament durchbekommt und den zu erwartenden kleinen Kulturkampf besteht, werden sich CDU und Gesellschaft mehr verändern als je durch Programme und Resolutionen. Das Bild der CDU wird stärker von einem intelligenten Disput zwischen Roland Koch und Jürgen Rüttgers über Freiheit und Gerechtigkeit geprägt werden als von noch so schönen Leerformeln in einem Programm. In dieser Auseinandersetzung wird sich zeigen, ob die Protagonisten die Grundwerte Freiheit und Gerechtigkeit gegeneinander in Stellung bringen – oder ob es gelingt, Freiheit als Chance für alle zu denken und Gerechtigkeit als eine Politik der Teilhabe möglichst aller an einem offenen Bildungs- und Arbeitsmarkt. Denn nur so lassen sich beide Grundwerte aus einem Ideenkern heraus entwickeln.
Auch auf anderen Gebieten, bei der inneren Sicherheit etwa oder in der Agrarpolitik oder bei den Sozialreformen, werden die politischen Muster nicht so rasch und so eindeutig erkennbar sein. Sie werden oszillieren zwischen einem Rückfall in altes Denken und der unsicheren Suche nach einem nach vorne weisenden Konsens. In jedem Falle wird es unübersichtlicher werden. Das ist für die Deutschen eine neue Erfahrung. Sie haben es lieber ordentlich und homogen, geschlossen, mit Hecken und Zäunen. Dass etwas Gutes entstehen kann aus Vielfalt, Verschiedenartigkeit, gar Dialog und Streit, ist ihnen ein eher fremder Gedanke. Sie werden es lernen und vielleicht sogar Spaß daran haben. Wenn abgefedert von der großen Koalition Positionen und Gegenpositionen freier und freimütiger ausgetauscht werden in den Parteien und zwischen ihnen, dann wird das für die Politik ohne Zweifel besser sein als jene bleierne Zeit, in der Oppositionsreflexe, Lagermentalität und Geschlossenheitswahn Politik und Parteien bis zur Unkenntlichkeit entstellt haben. Offener, sachlicher, nüchterner wird wohl die Atmosphäre um Angela Merkel und ihren Generalsekretär Pofalla werden. Dieser hat nicht nur, in der alten Tradition, für Februar einen „Wertekongress“ der CDU angekündigt, sondern auch deutlich gemacht, dass er, neu für die CDU, die Wertedebatte mit konkreten Themen wie einer modernen Familienpolitik verbinden möchte.
Entspannung kommt auch aus anderer Richtung. Mit dem Fünf-Parteien-System wird die Parteienlandschaft offener, und das wird jede Partei mit der Zeit gründlicher verändern, als diese selbst es von innen heraus gewollt oder gekonnt hätte. Wohin das führt, kann niemand sagen. Klar ist nur, dass die CDU, bräche morgen die große Koalition auseinander, nicht mit einer Neuauflage des Alten in den neuen Wahlkampf ziehen könnte. Der Reformsturm hat sich gelegt. Das politische Klima hat sich geändert. Der traditionelle Sozialflügel spürt Aufwind, auch wenn die Krise des deutschen Sozialmodells geblieben ist.
Die Ursachen dieser Krise treten nun parteienübergreifend in den Blick: Der Staat treibt das Geld auf die falsche Weise ein (Beiträge statt Steuern), und er gibt es auf die falsche Weise aus (Transfers statt Investitionen in Menschen, Strukturen, Dienste). Im Windschatten der Kritik am Neoliberalismus haben sich Tempo und Richtung des Reformzugs geändert. Er fährt langsamer, aber in die richtige Richtung: Von den nordischen Ländern kann man lernen, dass sich wirtschaftliche Dynamik und Wohlfahrtsstaat nicht ausschließen. Es gibt bei uns keine abstrakte Debatte darüber, welches der drei europäischen Modelle, das angelsächsische, das konservativ-kontinentale oder das skandinavische, grundsätzlich den Vorzug verdiene, und das ist auch gut so.
Jedes Land muss seinen eigenen Weg finden, wie es wirtschaftliche Dynamik mit sozialem Ausgleich verbindet. Aber die konkreten Schritte dieser Regierung weisen doch in Richtung Steuerfinanzierung, Chancengleichheit als zentrale Idee auch in der Familienpolitik, Deregulierung und gezielte Förderung auf dem Arbeitsmarkt, Ausbau der sozialen Infrastruktur für Kinder und Ältere, Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung als notwendige Voraussetzung eines nachhaltigen Sozialstaates.
Am Ende dürfte auch das neue deutsche Sozialmodell eher einem Patchwork gleichen. Deutschland könnte in den nächsten Jahren dem Ziel einer „sozialen Innovationsgesellschaft“ näher kommen, die der junge finnische Soziologe Pekka Himanen im neuen Heft der Berliner Republik als Geheimnis des Erfolgs der nordischen Länder beschreibt. Es wäre dies ein sozialer, politischer und vor allem kultureller Wandel: nach den Verkrampfungen und Zwangsfixierungen einer öffentlichen Debatte, die nostalgisch nur das alte Sozialdenken oder quasirevolutionär nur das angelsächsische Modell kannte, nun die Bedingungen der Möglichkeit eines Positivkreislaufs zu schaffen, also des Gegenteils des traditionellen Teufelskreises.
„Wenn wir imstande sind, Kreativität auszubauen, dann werden wir genug Geld erwirtschaften, um den Wohlfahrtsstaat weiter zu finanzieren – und das wiederum schafft die Grundlage dafür, dass unter nachhaltigen sozialen Bedingungen neue Innovatoren nachwachsen können“ (Himanen). WARNFRIED DETTLING