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Archiv-Artikel

Das süße Berlin

Beinahe das ganze Jahr geht es in der taz Berlin vor allem ums Bittere. Doch zu Weihnachten ist Zeit für Süßes. Hier sind sie: die Schokoladenseiten der Stadt

von WALTRAUD SCHWAB

Zuckerzeug und Schokolade – wann, wenn nicht zu Weihnachten, soll darüber berichtet werden. 364 Tagen im Jahr geht’s in der taz ums Bittere in der Hauptstadt. Heute aber ist Zeit für das süße Berlin. Viele Leute in der Stadt haben mit Bonbons, Nugat, Marzipan, aber vor allem mit Schokolade zu tun. Glaubt man ihren Berichten, dann gehören sie zu den fröhlicheren Menschen. Heute also geht es um Glück.

Berlin sei keine Schokoladenstadt, wird gesagt. Hannover und Halle hängen sich dieses Etikett an. Eberhard Päller, ein Kenner der Süßwarenszene, der seit 38 Jahren in Charlottenburg seine „Confiserie Melanie“ betreibt, will das nicht stehen lassen. Bezogen auf die Produktionsfläche sei Berlin früher eigentlich Spitzenreiter gewesen.

Päller kramt in seinen historischen Unterlagen und wird fündig: „Bereits 1809 gab es in Berlin die erste Schokoladenfabrik in der Leipziger Straße“, fasst er das Gelesene zusammen. Dietrich Gross hieß der Inhaber. „1828 hat er zum ersten Mal eine Dampfmaschine in der Schokoladenproduktion eingesetzt. 1848 wurde er Hoflieferant.“ Das sei ihm im Revolutionsjahr nicht gut bekommen. Was das genau bedeutet, steht nicht in den Unterlagen, wohl aber, dass Gross 1852 in Berlin das Schaufenster eingeführt habe.

Anderen Quellen zufolge sei 1821 in Leipzig die erste Schokoladenproduktionstätte gewesen. Auf jeden Fall hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts diesbezüglich viel getan. Die Industrialisierung und der Wegfall der Zölle auf Kakao in fast allen deutschen Ländern förderten die Verbreitung kakaohaltiger Produkte. Dass ab 1841 Rübenzucker in einer dem Rohrzucker entsprechenden Qualität zur Verfügung stand, trug ebenfalls zum Aufschwung bei.

Eine der heute in Berlin noch produzierenden Schokoladen- und Pralinenfabriken wurde im letzten Jahrhundert gegründet: Die 125 Jahre alte Firma Sawade in Reinickendorf. Die ebenfalls noch existierenden Schokoladenmanufakturen von Erich Hamann in Wilmersdorf, von Hugo Walter in Tempelhof kamen Anfang des 20. Jahrhunderts dazu, wie auch die Marzipanrohmassenfabrik Lembke. Die ebenso alte Firma Wilhelm Rausch, die vor 15 Jahren die 1863 gegründete Firma Fassbender übernahm, hat zwar noch den Firmensitz in Berlin, produziert aber in Peine. Ihr Laden „Fassbender & Rausch“ am Gendarmenmarkt ist die Nummer eins in Sachen Schokolade in der Hauptstadt. Um ehrlich zu sein, es ist kein Laden, es ist ein Schlaraffenland.

Süße Massenware wird in Berlin zudem produziert. Bahlsen, Storck und Stollwerck haben hier Werke. Die 1852 gegründete Firma Sarotti ging in Stollwerck auf und damit auch eine von kolonialem Gedankengut geprägte Werbefigur: der Sarotti-Mohr.

Das war jedoch längst nicht alles. Jürgen Stiebritz, der seit 30 Jahren bei Sawade arbeitet, zählt Schokoladenfirmen auf, deren Namen mehr nach Zirkus, denn nach Fabrik klingen: Frisöni, Nizelli, Kynast, Kwieschinsky, Cyliax. Was aus ihnen geworden ist? Er zuckt mit den Schultern.

Dass die Süßwarenproduktion in Berlin stadthistorisch bisher kaum erfasst ist, mag am Produkt selbst liegen. Bei Schokolade, Marzipan und Nugat geht es um Genuss und Sinnlichkeit. Die kurzen Momente, in denen das Zeug auf der Zunge zergeht, finden in der Gegenwart statt. Man kann sie nicht festhalten, nur wiederholen.

Krieg, Nachkrieg und Mauerbau setzten den Süßwarenfabriken zu. Etliche Firmen machten dicht. Heute gibt es in der Stadt zwei Kulturzentren, die in den 80er- und 90er-Jahren – ursprünglich im Zuge von Hausbesetzungen – in ehemaligen Schokoladenfabriken ein Domizil fanden. Das Frauenzentrum in der Mariannenstraße ist in der ehemaligen Fabrik Greiser & Dobriz untergebracht. Als sie besetzt wurde, musste erst zentimenterhohe alte Schokolade vom Boden gekratzt werden. Im Prenzlauer Berg gibt es das Kulturzentrum Schoko-Laden, in dem ebenfalls einst Süßes produziert wurde.

Nun aber scheint Schluss mit dem Niedergang. „Die, die bis heute durchgehalten haben, bleiben“, verkündet Eberhard Päller. Er meint nicht Stollwerck oder Storck. Er meint die kleinen Firmen, die überlebt haben, weil sie Exklusives produzieren. Dieses Jahr sind die Auftragsbücher aller befragten Süßwarenfirmen gut gefüllt. Daraus zu schließen, dass sich das Konsumverhalten der BerlinerInnen geändert habe –und zwar weg von Geiz-ist-geil hin zu qualitätvollem Süßkram – will Päller noch nicht glauben.

Dabei liegen Zahlen vor, die in diese Richtung weisen. Sascha Tischler, Sprecher von Stollwerck, bestätigt, dass mehr Premiumware und mehr Schokolade mit exotischen Rezepturen sowie herkunftsreine Plantagenschokoladen verlangt werden. Die VerbraucherInnen seien bereit, dafür auch einen höheren Preis zu zahlen. Fassbender & Rausch am Gendarmenmarkt verzeichnet in diesem Segment ein Plus um 75 Prozent.

Im Ganzen wurden im ersten Halbjahr 2005 nach Auskunft des Verbands der deutschen Süßwarenindustrie 380.000 Tonnen Schokoladenwaren produziert; 2,8 Prozent mehr als in der ersten Hälfte des Vorjahrs. Der Boom soll was mit der Berichterstattung über den gesundheitlichen Mehrwert von Kakao zu tun haben, meint der Stollwercksprecher. Die darin enthaltenen Polyphenole sollen so effektiv wie Vitamine sein und sogar Karies vorbeugen. Die sekundären Pflanzeninhaltsstoffe (SPS) wiederum wirkten sich positiv auf Herz- und Kreislaufkrankheiten aus.

Die Zeichen stehen auf Aufbruch. Süßes von hoher Qualität ist in. Berlin ist dabei. Vielleicht ist der ehemalige Börsenmakler, der nun in Kreuzberg in Schokolade macht, ein weiteres Signal dafür.