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Archiv-Artikel

Tell me why

DAS WEIHNACHTS-SCHLAGLOCH VON RENÉE ZUCKER

Die Autos spielen Jingle Bells, wenn der Rückwärtsgang eingelegt ist, überall blinken die Lichterketten

Europäer durchlaufen in Indien für gewöhnlich einen Zyklus. Der sieht so aus: erstes Stadium: enorme Begeisterung – alles Indische ist wundervoll; zweites Stadium: alles Indische ist gar nicht so wundervoll; drittes Stadium: alles Indische ist entsetzlich. Für manche endet es damit, für andere beginnt der Kreislauf aufs Neue. Ich habe ihn so oft durchlebt, dass ich mir wie aufs Rad geflochten vorkomme – mal bin ich oben, mal bin ich unten.Ruth Prawer Jhabvala

In Varanasi gab es wunderschönen Christbaumschmuck: die wichtigsten indischen Götter als fliegende Tannenbaumanhängsel. Auf Ratten, Löwen oder Schlangen reiten sie durch einen Hinduhimmel, in dem auch das liebe Jesulein seinen Platz hat. Im Zweifelsfall ist es eine der unzähligen Reinkarnationen von Shiva oder Vishnu und sowieso sind wir alle Hindus. Im Zweifelsfall auch Mrs Singh.

Mrs Singh ist die Gattin von Mr Singh, und zusammen mit dem kleinen Narinderpal feiern sie alles, was das Jahr zu bieten hat, selbstverständlich auch Weihnachten. Die Sikhfamilie nutzt einfach gerne jede Möglichkeit zum Feiern: Ostern, Holi, Guru Nanaks Geburtstag, Diwali, Eid – Hauptsache, es gibt lecker Essen und jede Menge Leute sitzen nah zusammen. Mrs Singh sagt, sie kann ohne das nicht leben. Wenn sie länger als zwei Tage nur mit ihrem Mann zusammen ist, dann kriegen sie furchtbaren Krach. Und man möchte nicht gerne Krach mit der temperamentvollen Mrs Singh kriegen. Mr Singh weiß das auch. Ganz still und schön lugt er unter seinem olivgrünen Turban hervor, während Mrs Singh die Welt erforscht und erklärt.

Europa wäre nichts für sie, das hat sie letztes Jahr bei einer vierwöchigen Sightseeingtour durch sechs Länder festgestellt. Europa ist wohl nur was für Eremiten, sagt sie mit einer Mischung aus Abscheu und Ehrfurcht. Speziell die Schweiz hat einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. In der Schweiz habe sie Leute getroffen, die tatsächlich ein oder zwei Tage ganz allein verbrächten und mit niemandem sprechen. Da war sie dann richtig froh, dass es bald wieder zurück nach Delhi ging, wo Tag und Nacht Lärm und Leben herrscht.

Mr und Mrs Singh gehören eindeutig zum neuen Mittelstand Indiens. Seit einem Jahr besitzen sie ein Guesthouse in einem der besseren Stadtteile. Hier wohnen nicht entsetzlich reiche, aber durchaus wohlhabende Inder: Kaschmiren, die mit Teppichhandel gut verdient haben, Pandschab-Sikhs aus dem Taxibusiness, freischwebende Christen aus Medien und Werbebranche. Hauptberuflich ist Mrs Singh auch noch Lehrerin für Englisch und Sozialkunde an einer Public School. Die Kombination aus Bildungsverbreitung und Touristen-Business kommt ihrem Naturell sehr entgegen.

Im Hotel parliert sie lauthals mit den Reisenden, die ihr bescheidener Mann in aller Stille betreut, und in der Schule quatscht sie vermutlich ebenso lautstark mit Kollegen und Kindern. Im Kollegium und in den Klassen sind Hindus, Muslime, Christen, Sikhs und Jains. Da müssen natürlich viele religiöse Feste gefeiert werden, sagt sie fröhlich, wobei sie keinen Zweifel daran lässt, dass es mehr oder weniger bevorzugte Religionen gibt. Neulich hätten sie einen Schüleraustausch mit Pakistan gehabt. Sie war mit einer Klasse in Pakistan. Sehr warmer Empfang, zweifellos, auch nette Leute dort, aber dann gab es doch muslimische Eigenarten, die ihr missfielen. Zum Beispiel, dass Jungen und Mädchen getrennt essen sollten. Das sei in Delhi schon längst abgeschafft und würde auch von muslimischen Eltern nicht gefordert. Wer so was wolle, schicke seine Kinder sowieso zu anderen Schulen.

Als ich abends mit meinem kaschmirischen Freund Mansoor in Nizzamudin, einem muslimischen Stadtteil, in dem das Grab des Sufi-Dichters Mirza Ghalib ist und an manchen Tagen Qawalligruppen auftreten, frage, warum es Geschlechtertrennung beim Essen gibt, wird er unwillig. „Du immer mit deinem Warum“, sagt er, „da gibt es kein Warum. Es ist Tradition, und die Frauen finden es gut, es ist sicherer für sie.“ Sofort geraten wir aneinander und in eine dieser fruchtlosen Diskussionen, die immer kurz vor der Explosion stehen.

Vielleicht ist es ja tatsächlich so, als wenn mich jemand etwas fragen würde wie: Warum dürfen die Autos bei Rot nicht fahren und wieso tragen Männer keine Röcke?

Es stellte sich dann am Ende heraus, dass Mansoor von einem bestimmten kaschmirischen Hochzeitsmahl sprach, bei dem jeweils vier Personen von einem Teller essen. Nur für die Zeit dieser Nahrungsaufnahme, etwa 15 Minuten, seien die Geschlechter getrennt. Ich frage nicht mehr nach, warum es für Frauen sicherer ist. Hygiene ist schließlich ein weites Feld in der großen Kulturlandschaft.

Obwohl ich mich ehrlich bemühe, die Warumfrage zu vermeiden, und Mansoor sich anstrengt, seinen Schritt zu verlangsamen, so dass wir gemeinsam und nicht im Zehn-Meter-Abstand hintereinander (ich natürlich hinterherhechelnd) über die Straße gehen, kommt es doch immer wieder geradewegs zu unbeabsichtigten Sprüngen mitten in ungesichertes Minengebiet. Dass wir beide einigermaßen erfahren mit der jeweils anderen Lebensweise sind, schützt uns nicht.

Mit dem Hindu Rakesh ist es übrigens nicht einfacher. Er hat noch nach drei Jahren Ehe mit einer christlichen Anglo-Indian seine Schwierigkeiten mit der anderen Kultur.

Die Sikhfamilie nutzt jede Möglichkeit zum Feiern: Ostern, Holi, Guru Nanaks Geburtstag, Diwali, Eid

Uns alle eint, dass wir doch letztlich die eigene Erziehung für die bessere halten. Die Inder haben nur so unendlich mehr Erfahrung im Umgang mit dem Anderen, dass ich mich manchmal fühle wie vom hinterletzten Dorf – was Deutschland ja zweifelsohne auch in vieler Beziehung ist. Vor allzu viel indischem Mitleid rettete mich neulich nur die Meldung, dass wir auf Platz 3 in der Weltwirtschaftsliste liegen und Indien Platz 10 belegt.

Und während man also in Deutschland schon stolz ist, wenn Iris Berben in jeder Talkshow Weihnukka promotet, als gäbe es dazu bald ein Produkt zu kaufen, nach dessen Konsum man genau so unsterblich sexy bleibt wie von ihrem Rotwein-mit-Wasser-Schönheitsrezept, renne ich weiter durch Delhi und suche vergeblich nach dem hinduistischen Christbaumschmuck.

Auf der Straße wünschten mir die kaschmirischen Schlepper „Merry Christmas“, bevor sie mich in einen der Shops lotsen wollten, und jede Menge Billig- Glitzer-Krimskrams, von kreischend bunten Plastikkugeln bis zu tanzenden Nikoläusen, ist auch auf den Märkten zu kriegen. Aber es unterscheidet sich nicht von dem sonst üblichen Angebagger und dem anderen Flitter. So gesehen ist ganz Indien in permanenter Heiligabendstimmung: Die Autos spielen Jingle Bells, wenn der Rückwärtsgang eingelegt ist, überall blinken und blitzen die Lichterketten, bimmeln die Glocken und gebetet wird sowieso von morgens bis abends.

Friede auf Erden wird diesmal auch wieder nicht dabei sein und die kulturellen Missverständnisse nicht aufgelöst werden. In diesem Fall hilft immer wieder die Talmudweisheit, dass es uns nicht gelingen wird, wir aber nicht aufhören werden, daran zu arbeiten. Amen.