: Auf dem Kopf geht es sich schlecht
LENZ Eduard Habsburg schickt „Lena in Waldersbach“ auf literarische Irrfahrt
Niemals wieder im Leben liest man Bücher wie als Teenager, so ernsthaft, so kontemplativ, so unmittelbar. In jener Phase größter Verunsicherung im Alter zwischen 13 und 19 können Bücher Halt geben. Wenn erste Lieben unglücklich enden und Zensuren schlechter werden, wenn Eltern zu Nervensägen mutieren und der eigene Körper die Kontrolle über den Kopf zu übernehmen droht, dann können Sätze helfen, wie die, die am Anfang des „Lenz“ stehen, jener kurzen Erzählung, die der früh verstorbene Georg Büchner in den 1830er Jahren mit Anfang 20 verfasst hatte: „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen.“
Eine Idylle, denkt die Leserin, eine romantische Landschaftsbeschreibung. Doch jetzt kommt das Wetter: „Es war nasskalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg.“ Eine bedrohliche Wolkenwand schiebt sich über die Szene. Dann sind wir wieder bei Lenz: „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.“ Was ist los? Auf dem Kopf? Irgendwas stimmt hier nicht.
Auch bei Lena stimmt etwas nicht, der 17-jährigen Gymnasiastin aus Frankfurt am Main, die ungefähr 240 Jahre nach dem Sturm-und-Drang-Dichter Lenz an einem 20. Mai durch dasselbe Gebirg geht, die Vogesen im französischen Elsass. Das beschreibt Eduard Habsburg in seiner Erzählung „Lena in Waldersbach“.
Lena hat ihre eigenen Gründe, warum sie auf Lenz’ Spuren wandelt, und die haben nichts mit Literaturwissenschaft zu tun: „Sie interessierte sich nicht für die literarischen Aspekte des Lenz, sondern seine Geschichte, seine Story, hatte sich aber doch in den Lesesaal begeben, ihren I-Pod weggepackt und das wenig einladende XXL-formatige Buch aufgeklappt.“ Gemeint ist die letztes Jahr vollendete zehnbändige Marburger Ausgabe der Werke Georg Büchners, deren fünfter Band sich auf 526 Seiten ausschließlich mit Büchners „Lenz“ beschäftigt, jenem kurzen Text von gerade einmal 25 Seiten Länge.
Die Protagonistin hat nicht nur ihren I-Pod weggepackt, sie hat sogar ihr Handy zu Hause gelassen. Absichtlich! Eine Enttechnisierung, die in der Kunst immer ein Indiz dafür ist, dass die Welt der Figuren aus den Fugen geraten ist. So wie bei Lena. Sie hat ihr Handy zu Hause in ihrem Zimmer zwischen Wand und Regal versteckt. Sie will sich selbst bestrafen. Wofür, soll hier aber nicht verraten werden.
Lena ist aufgebrochen, um dem Text auf den Grund zu gehen. Text ist immer und zuallererst eine Ansammlung von Zeichen. Wie Spuren auf einem Weg durchs Gebirg, den ein Autor gegangen ist und beschrieben hat. Ob nur im Kopf oder auch mit den Füßen bleibt zweitrangig.
Jede Lektüre ist individuell. Eigene Erfahrungen vermengen sich mit vermittelten Ereignissen, und manchmal stellt sich die Frage, ob man eine Begebenheit selbst erlebt oder nur durch Lektüre vermittelt bekommen hat und ob es da eigentlich einen Unterschied gibt.
Die „Lena“ fordert das literaturwissenschaftliche Lesen gewissermaßen ein, auch wenn die Figur das Gegenteil behauptet. Sie selbst trägt das Reclam-Heft stets bei sich. Es ist übersät mit Anmerkungen und Kommentaren. Ganz lustig wird es, wenn man solche Passagen beim Lesen markiert und dann die Vorlage von Büchner zum Vergleich heranzieht, weil man zum Beispiel eine Rezension über das Buch schreiben soll, das eine Erzählung ist über die Wirkung einer Erzählung über einen Schriftsteller auf eine junge Leserin.
In der zentralen Szene in „Lenz“ diskutieren der Dichter und sein Freund die Aufgabe der Literatur: Wirklichkeit abzubilden. In all ihrer Fragmentiertheit und mit all ihren Zerfallserscheinungen. „Das Gefühl, dass, was geschaffen sei, Leben habe […], sei das einzige Kriterium in Kunstsachen“, sagt Büchners Lenz. „Übrigens begegne es uns nur selten: In Shakespeare finden wir es, und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Goethe manchmal entgegen; alles übrige kann man ins Feuer werfen.“
LEA STREISAND
■ Eduard Habsburg: „Lena in Waldersbach“. C. H. Beck Verlag, Mün- chen 2013, 124 Seiten, 14,95 Euro