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Archiv-Artikel

Anhaltende Demütigung

BUNDESLIGA Der Hamburger SV gerät in Panik und wechselt den Kapitän. Wieder einmal hat allzu lange das Wunschdenken regiert bei den chronisch überambitionierten Hanseaten

Mit dem grau melierten Carl Edgar Jarchow hat der HSV zwar den perfekten Hanseatendarsteller an der Spitze, im Moment wirkt er indes eher wie ein Operettenklub

AUS HAMBURG RALF LORENZEN

Günter Netzer weiß auch nicht mehr, was er will. Bei der Beurteilung seines ehemaligen Vereins, den er als Manager einst auf den europäischen Thron führte, fährt er Schlangenlinie. „Der HSV hat kein Konzept“, sagte er im Januar, um ihn im Februar „auf gutem Weg“ zu sehen und ihn sich dann gestern laut Bild wieder „vorzuknöpfen“: „Platz 9 ist kein Erfolg.“

Damit hechelt er genau dem Meinungsbild hinterher, dass dem HSV in dieser Saison entgegengehalten wird: vom Abstiegskandidaten über den Champions-League-Anwärter zur Lachnummer. Und von dem die HSV-Offiziellen sich zu immer neuem Aktionismus treiben lassen: erst zum Zukauf eines Glamourpärchens namens van der Vaart, dann in kollektive Großmannsträume und schließlich zum Kapitänstausch Westermann gegen van der Vaart. Dabei sagte man den Hamburgern lange nach, sie seien kühl kalkulierende Hanseaten. Mit dem grau melierten Carl Edgar Jarchow haben sie zwar den perfekten Hanseatendarsteller an der Spitze, im Moment wirken sie aber eher wie ein Operettenklub.

Das kann nur verstehen, wer weiß, als wie demütigend es viele HSV-Anhänger empfinden, dass seit 26 Jahren kein Spieler mehr den Rathausbalkon betreten hat, um ihnen Schale, Schüssel oder Pott entgegenzuhalten. Das gilt im besonderen Maße für die, die sich ansonsten auf Weltniveau empfinden: die Macher in den Medien und der Wirtschaft.

Denen wollte Expräsident Bernd Hoffmann so schnell wie möglich wieder einen Weltklub hinbauen. Selbst als es nicht einmal mehr für einen Platz in der Europa League reichte, wurde mit hohem Risiko eine Kaderpolitik betrieben, die wieder in die Champions League führen sollte. Nachdem diese Politik in der letzten Saison zu akuter Abstiegsnot und neuen Millionenlöchern geführt hatte, schien auch dem letzten Träumer klar zu sein, dass es einen radikalen Umbruch geben müsste, der Geduld und Kontinuität erforderte.

Mit Jarchow, Sportdirektor Frank Arnesen und Trainer Thorsten Fink schien ein Trio bereitzustehen. Die Geduld währte genau 90 Minuten: Der HSV verlor am ersten Spieltag zu Hause mit 0:1 gegen den 1. FC Nürnberg und bereits am zweiten Spieltag saß das (damalige) Ehepaar van der Vaart beim Auftritt im Weserstadion auf der Tribüne, gefordert von der Boulevardpresse, teilfinanziert vom Milliardär Kühne, gefeiert von den Fans, bei denen das Erscheinen des verlorenen Sohnes eine Art Kinderglauben weckte: Alles wird gut.

Der HSV steigerte sich tatsächlich eine Zeit lang, besiegte unter anderem zweimal Borussia Dortmund und kam den Champions-League-Plätzen bedrohlich nahe. Niemand wollte sehen, welch großen Anteil daran die Schwäche der anderen Mannschaften, ein großartiger Torwart und oft einfach auch nur eine Menge Dusel hatte. Eine konstante spielerische Weiterentwicklung jedenfalls war nicht zu sehen.

Und jetzt? Der Traum ist genauso geplatzt wie die Ehe der van der Vaarts. Na und. Realistisch betrachtet ist nicht mehr passiert als ein peinliches 2:9 in München. Mit Platz neun wären Fans und Verantwortliche vor der Saison zufrieden gewesen. Stattdessen wird nun die Krise ausgerufen und auf die Mannschaft eingeprügelt. Da wird selbst ein harmloses Angebot des Mannschaftsrates, sich mal mit den Fans auszusprechen zum PR-GAU: „HSV-Würste laden Fans zum Grillfest ein.“

Wenn Carl Jarchow einen, wie man in Hamburg auch in gehobenen Kreisen sagt, Arsch in der Hose hätte, würde er bekennen: „Wir haben leider wieder versucht, es den Großmäulern in unserer Stadt recht zu machen. Gebt uns noch eine Chance, im Rahmen unserer wirklichen Möglichkeiten eine Mannschaft aufzubauen, die in ein paar Jahren wieder um Spitzenplätze mitspielen kann. Bis dahin freuen wir uns über Platz neun.“ Wenn er das nicht tut, wird der Hamburger Boulevard demnächst zum letzten Mittel greifen – und die Rückkehr von Felix Magath fordern.