: Der Trend geht zur Zwangsräumung
WOHNUNGSLOS Sozialverbände warnen, weil die Zahl der Zwangsräumungen wieder steigt. Zahlungsunfähige Mieter sind oft überfordert und wehren sich zu spät. Dabei können Kommunen die Räumungen abwenden und die Wohnung beschlagnahmen
KÖLN taz | Die Zwangsräumung aus der Wohnung – manche halten das für tragische Einzelfälle, andere für ein zunehmendes Phänomen. „Dazu gibt es keine bundesweiten statistischen Daten“, sagt Thomas Specht, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG). In dem in Bielefeld ansässigen Dachverband sind mehr als 900 soziale Dienste organisiert. „Es gibt einen Trend zu mehr Zwangsräumungen“, sagt Specht. Er ist aufgrund seiner Erfahrungen und der Rückmeldungen aus den Mitgliedsorganisationen davon überzeugt, dass es sich nicht um Ausnahmen handelt. In Ballungsgebieten mit hohen Mieten können viele nicht auf günstige Wohnungen ausweichen. „85 bis 90 Prozent der Zwangsräumungen gehen auf rückständige Mietzahlungen zurück“, sagt er.
Die Zwangsräumung ist die letzte Eskalationsstufe, um einen Mieter aus einer Wohnung zu bekommen. Sie gehört zu den Maßnahmen der Zwangsvollstreckung und ist in der Zivilprozessordnung geregelt. Der Vermieter muss zuvor einen gerichtlichen Räumungstitel erwirkt haben. „Falls ein Mieter sich nicht wehrt, kann es von der fristlosen Kündigung bis zur Zwangsräumung recht schnell gehen“, warnt die Kölner Fachanwältin für Mietrecht Birgit Langenbeck.
Immer wieder komme es vor, dass Mietern ihre prekäre Lage so über den Kopf wachse, dass sie handlungsunfähig würden. „Das ist zwar verständlich, hat aber katastrophale Auswirkungen“, sagt sie. So seien in Köln die Gerichte zügig mit einem Versäumnisurteil zur Hand – dann kann innerhalb von nur zwölf Wochen der Gerichtsvollzieher vor der Tür stehen. Zwar könne das Amt für Wohnungswesen die Räume beschlagnahmen, um die Obdachlosigkeit abzuwenden. Das geschieht nach den Erfahrungen der Anwältin aber nur ganz selten.
Ulrich Ropertz, Geschäftsführer des Deutschen Mieterbundes, glaubt, dass es sich bei Zwangsräumungen um Einzelfälle handelt. „In unserem System gibt es Alternativen, wenn jemand seine Miete nicht zahlen kann“, sagt er. Aber: Die konkrete Bedrohung, die eigenen vier Wände zu verlieren, bekommen sehr viele Menschen zu spüren. Umfragen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe unter Kommunen haben ergeben, dass in den Jahren 2009 und 2010 die Zahl der Menschen, die unmittelbar von Wohnungsverlust bedroht sind, um 3.000 auf 106.000 Personen gestiegen ist. Die Umfrage für die Jahre 2011 und 2012 läuft gerade. „Wie viele Menschen tatsächlich ihre Wohnung verloren haben oder zwangsgeräumt wurden, ist schwer zu sagen“, erklärt Specht. Denn das hängt davon ab, ob die jeweilige Kommune vorsorgt. Zu den wenigen Ländern, die Zahlen dazu haben, gehört Hamburg. Hier gab es 2012 laut Senatsangaben 4.428 Räumungsklagen, in 1.590 Fällen kam es zur Zwangsräumung. 2010 waren es 1.380 Räumungen.
Die BAG fordert die Einrichtung einer bundesweiten Statistik zu Wohnungslosigkeit und Zwangsräumungen. Specht: „Damit würde das Problem sichtbar.“ ANJA KRÜGER, PASCAL BEUCKER