: Kein Wort für Schilddrüse
Fehldiagnosen gehören zum Alltag: Gehörlose haben es schwer, mit Ärzten in Praxis und Klinik zu kommunizieren. Im Hamburger Klinikum Nord arbeitet jetzt erfolgreich ein Gesundheitslotse: Der gehörlose Arzt Andreas Paulini
Von Elke Spanner
Beim Griff zum Telefon stellt sich ein schlechtes Gewissen ein. Wie unbedacht, mal eben einen Termin absprechen zu wollen. Hörer abnehmen, Nummer wählen und auf die Begrüßung warten, so geht es nicht. Immerhin gibt es das Internet. Doch ehe man E-Mails versenden konnte: Wie hat man da Kontakt aufgenommen zu Menschen, die nicht hören können?
Ein kleiner Moment der Verlegenheit, der vergeht. Er verschafft nur mehr eine kleine Ahnung, welch schwerwiegenden Problemen Gehörlose im Alltag ausgesetzt sind. Welcher Arzt spricht schon per Brief seine Termine ab? Und dann sitzt man ihm gegenüber, muss seine körperlichen Symptome beschreiben und hat keine Worte dafür. Wie soll man über die Schilddrüse sprechen, wenn das Gegenüber keine Gebärdensprache spricht? Wie verstehen, dass eine Sonographie ansteht? „Es ist schwer, gehörlosen Menschen eine gute medizinische Behandlung zu bieten“, sagt Andreas Paulini.
Wieder ein irritierender Moment, denn er spricht mit Worten und gebärdet dabei. Wie kann jemand das Wort „Röntgenaufnahme“ aussprechen, wenn er selbst es akustisch nicht versteht? Hört er also doch? Nein. Andreas Paulini liest von den Lippen ab. Das geht, wenn der Raum gut beleuchtet ist, sein Gegenüber in gut sichtbarer Entfernung sitzt und er nicht zwischen mehreren Gesprächspartnern hin- und herspringen muss. Mit anderen Worten: Die Bedingungen sind erschwert. Der Alltag für Gehörlose ist ein Gespräch voller Unsicherheiten und Missverständnissen, eben nicht die „barrierefreie Kommunikation“, die das Sozialgesetzbuch als Anspruch formuliert.
Ein Gebärdendolmetscher ist nicht immer zu bekommen, auch wenn Hamburg dank des Fachbereiches an der hiesigen Universität über vergleichsweise viele Übersetzer verfügt. Und gerade bei Arztbesuchen haben viele Patienten nicht gerne einen Dritten mit dabei. „Das Problem gibt es vor allem in der Psychiatrie, wo viele sehr private, familiäre Dinge zur Sprache kommen“, sagt Paulini.
Der 42-Jährige ist selbst Arzt. Er kennt beide Seiten, die des gehörlosen Patienten und die des Arztes, der auf gute Verständigung mit dem Kranken angewiesen ist. Sein Büro hat er in der psychiatrischen Abteilung des Klinikum Nord-Ochsenzoll (AKN). Betritt ein Besucher den Raum, wird Paulini durch einen Lichtblitz darauf aufmerksam gemacht. Ein Telefon hat er auch, statt des Hörers gibt es einen Bildschirm, auf dem er seinen Gesprächspartner und dessen Gebärden sieht. Sein Arbeitsplatz aber ist hauptsächlich auf der Station, vielmehr: auf den Stationen des AKN.
Der Mediziner wird von den Ärzten aller Abteilungen dazugeholt, wenn diese einen gehörlosen Patienten zu behandeln haben. Paulini ist als „Gesundheitslotse“ für Gehörlose angestellt, das ist einmalig in der ganzen Bundesrepublik. Paulini soll im Sinne des Hausarztmodells als Berater und Begleiter der Gehörlosen während der gesamten Behandlungszeit fungieren. Läuft es gut, ist er schon bei der Aufnahme eines Patienten in der Klinik dabei.
Da fangen die Probleme mit der Verständigung schon an. Paulini fragt dann nach der Krankenversicherungskarte und klärt über Zusatzleistungen auf. Wichtiger noch ist das medizinische Aufnahmegespräch. Als Assistenzarzt darf er die Erstanamnese eines Patienten selbst durchführen. Muss der länger in der Klinik bleiben, besucht Paulini ihn regelmäßig auf der Station und ist – soweit möglich – bei der Visite durch Fachärzte dabei.
Rund 150 Einsätze hatte er seit Arbeitsbeginn im vergangenen Jahr in der psychiatrischen Ambulanz, hinzu kamen weitere rund 150 Besuche auf der Station. Bisher ist Paulini vor allem in der Psychiatrie unterwegs, weil die Initiative für das Modellprojekt von hier ausgegangen ist. Wolfgang Butenuth, Projektleiter in der Psychiatrie des AKN, hat den gehörlosen Arzt als Gesundheitslotsen an die Klinik geholt. Butenuth kann selbst etwas Gebärdensprache, aber nicht „für jedes biographische Detail“. Gerade darauf aber kommt es oftmals an. „Es gab früher viele Fehldiagnosen“, weiß Butenuth.
Im Großraum Hamburg leben etwa 3.000 gehörlose Menschen, hinzu kommen rund 10.000 Schwerhörige und Spätertaubte. Da das Angebot am AKN einmalig ist, kommen auch viele Patienten zu Paulini, für die das Krankenhaus im Norden der Stadt nicht gerade um die Ecke liegt. Aus einem Umkreis von rund 50 Kilometern, erzählt er, kommen Kranke zu ihm. Das AKN strebt an, auf Dauer auch Pflegepersonal und Psychologen auf den Stationen zu beschäftigen, die mit Patienten über Gebärden kommunizieren. Davon aber ist man auch im AKN noch weit entfernt.
Dass das medizinische Versorgungssystem in seiner ganzen Breite Gehörlosen explizit zugänglich gemacht werden muss, ist in der Gesundheitspolitik- und wissenschaft noch ein neuer Gedanke. Begleitend zu seiner Arbeit als Gesundheitslotse sitzt Paulini an einer wissenschaftliche Studie über die Frage, wie hörgeschädigte Patienten und Gehörlose mit spezifischen Kenntnissen besser ins Gesundheitswesen integriert werden können.
„Schon für Hörende ist es oft schwer, die medizinische Diagnose zu verstehen und den Mut aufzubringen nachzufragen“, sagt Paulini. „Gehörlose fühlen sich den Ärzten erst recht ausgeliefert.“