: „Wir sind nicht die Könige der Vahr“
Verantwortung für die Kinder tragen, aber kein Eingriff in die Rechte der Eltern: Das Jugendamt soll beiden Ansprüchen genügen. Aber vollständigen Schutz kann es nicht gewähren. Und die Arbeitsbedingungen werden immer schwieriger
Bremen taz ■ Einmal, sagt Elke Schröder, habe sie einen Jungen aus seiner Familie genommen, die ihn mit einem Kleiderbügel schlug, weil sie glaubte, ihn so am besten zu erziehen. Die Eltern hätten alles abgestritten. „Wie üblich“, sagt Elke Schröder sachlich. Ungewöhnlich war, dass der Junge seine Angaben vor den Eltern bestätigt hat. „Ich brauche eine Auszeit, Mama“, sagte er zu seiner Mutter, bevor er mit Frau Schröder die Wohnung verließ. Ein Achtjähriger.
Elke Schröder ist so sachlich, wie man es sein muss, wenn man jahrzehntelang Wächter sein soll. Eine Wächterfunktion hat das Jugendamt, so heißt es offiziell, und immer öfter steht in den Zeitungen, dass es diese Aufgabe nicht erfüllt. Vermutlich finden Elke Schröder und Brigitte Strube es deshalb beruhigend, wenn sie zu zweit über ihre Arbeit sprechen und ihre Namen geändert werden. Weil sie dann nicht allein für ihre Arbeit einstehen müssen. Die Öffentlichkeit erwartet von ihnen vollständige Sicherheit. Und findet, dass die nur eine Frage der Organisation und des guten Willens ist.
Elke Schröder und Brigitte Strube nehmen das zur Kenntnis, wie sie die Ausflüchte der Eltern zur Kenntnis nehmen. Nüchtern. „Wir sind nicht so allmächtig, wie die Leute glauben“, sagt Elke Schröder. „Wir sind nicht die Könige der Vahr“, sagt Brigitte Strube.
Im Gegenteil. In wenigen Berufen ist man so sehr wie sie darauf angewiesen, dass man zu ihnen kommt, dass man ihnen erzählt, was in den Hochhaussiedlungen vor sich geht. „Wir sind ja immer außen vor“, sagt Brigitte Strube und gäbe es nicht LehrerInnen, ErzieherInnen und ÄrztInnen, die sich an das Jugendamt wenden, wenn ihnen etwas auffällt, würden sie viel später oder gar nicht Kontakt mit den Familien aufnehmen. Aber drei Prozent aller Kinder geht nicht in den Kindergarten und bei den unter Dreijährigen gibt es keinerlei Kontrolle von außen. „Es ist am schlimmsten bei den Kindern, die zu klein sind, um wegzulaufen“, sagen die Frauen vom Jugendamt. Wie im Fall der beiden kleinen Mädchen, die nach der Trennung der Eltern beim Vater blieben, der nicht wollte, dass die Kinder die Mutter besuchten, weil – so der Vater – der neue Freund die Kinder sexuell belästigte.
„Die Täter projizieren das, was sie tun, oft auf andere“, sagt Elke Schröder. Eine Erzieherin begann, Tagebuch zu führen, sie schrieb auf, dass die Kinder Halsschmerzen hatten, aber nicht zum Arzt gebracht wurden. „Papa hat doch Medizin“, sagten die beiden und bei näherem Nachfragen stellte sich heraus, dass die „Medizin“ das Sperma beim Oralverkehr war.
„Jetzt war klar, dass wir ihn konfrontieren“, sagt Elke Schröder. Der Familienrichter entscheidet auf ihre Bitte hin ohne vorherige Anhörung des Vaters, dass ihm die Kinder entzogen werden dürfen. Das Jugendamt muss innerhalb von 48 Stunden einen richterlichen Beschluss beibringen, der es ihm erlaubt, Kinder aus der Obhut ihrer Eltern zu entfernen. „Das ist der schwierigste Teil“, sagt Elke Schröder. Aber nichts ist fataler, als Kinder erst aus der Familie zu nehmen, um sie kurz darauf dorthin zurückzuschicken.
Man denkt, dass es ein guter Moment sein müsste, wenn die Kinder endlich aus der Reichweiter derer geholt werden, die sie missbraucht haben, monatelang, jahrelang. Aber die Kinder, vor allem die kleinen, klammern sich oft an die Eltern, wenn die Mitarbeiter des Jugendamts kommen und wenn sie schon sprechen können, rufen sie auch: „Ich will bei dir bleiben.“ Es gibt Eltern, die ihre Kinder verstecken, wenn das Jugendamt kommt. „Das ist hochdramatisch. Aber es ist nicht unser Alltag“, sagt Brigitte Strube.
Der Alltag: Das sind Mütter und Väter aus gescheiterten Beziehungen, die kommen und sich darüber beklagen, dass das Kind mit dem anderen Elternteil beim Friseur war. Ohne Absprache. Der Alltag sind Eltern, die nicht länger Eltern sein wollen, sondern lieber beste Freundin oder Kumpel. Es sind keine Sadisten. „Es sind schwache Eltern, die schon aus schwachen Familien kommen“, sagt Brigitte Strube. Eltern, die keine Grenzen setzen, weil das erst einmal bequemer ist. Die Zeitungen berichten meist nur über die Missbrauchsfälle, aber das ist nicht die Mehrzahl. Elke Schröder schätzt, dass etwa ein Fünftel der Kinder, mit denen das Jugendamt zu tun hat, Opfer von sexuellen Übergriffen ist.
Elke Schröder und Brigitte Strube haben eine sehr pragmatische Sicht der Dinge. Aber trotzdem haben die Zahlen Einzug gehalten im Jugendamt. Elke Schröder und Brigitte Strube sind für je 5.708 Kinder und Jugendliche zuständig. In Schwachhausen gibt es für 17.696 Kinder und Jugendliche nur eine Planstelle. Die Verwaltung muss die Bedürftigkeit statistisch einordnen können, deshalb gibt es einen Benachteiligungsindex mit Kennziffern für den durchschnittlichen Schulabschluss oder das Einkommen. Es ist nicht so, dass ein höherer Schulabschluss vor Misshandlungen schützt. „Die Kollegen in Schwachhausen haben auch etwas zu tun“, sagt Elke Schröder. Mit Schulverweigerern, mit familiärer Gewalt, mit Familiengerichtsstreitigkeiten, die sich über Jahre hinziehen können, weil immer neue Gutachten eingeholt werden.
In der Neuen Vahr kümmert sich das Jugendamt um alleinerziehende Mütter, die überfordert sind mit ihrer Verantwortung, Eltern, die sagen, dass es in ihrer Heimat üblich sei, die Kinder zu schlagen. Und immer öfter zertrümmern Jungen, die gerade mal zehn Jahre alt sind, die Wohnungseinrichtung. „Die haben jetzt schon kriminelles Potential“, sagt Elke Schröder. Sie ist dankbar für jedes Elternpaar, das von sich aus kommt. „Es ist eine schöne Sache, wenn eine Mutter mir sagen kann: Ich habe mein Kind geschlagen“, meint sie. Es kommen aber auch 16-Jährige, die eine eigene Wohnung haben wollen, weil ein Bekannter von ihnen doch auch eine bekommen hat. Von Kindergeschrei entnervte Nachbarn rufen an, weil sie glauben, dass die Drohung mit dem Jugendamt ein Trumpf im Nachbarschaftsstreit sein könnte.
In Bremen wird, wie überall in Deutschland, gespart im Sozialressort. Brigitte Strube und Elke Schröder sind Mitte Fünfzig, die mit Abstand jüngste Kollegin in der Abteilung ist 40. Neue Kollegen werden kaum noch eingestellt. Dafür sind Strube und Schröder jetzt Case-Manager statt wie früher Sachbearbeiterinnen, aber es klingt nicht so, als hielten sie das für einen Fortschritt. Sie finden es richtig, dass es mittlerweile Standards für ihre Arbeit gibt, so dass Familien in der Vahr genauso behandelt werden wie die in Schwachhausen. Aber sie finden es problematisch, dass Kinder, die aus ihren Familien genommen werden, jetzt ausschließlich in Pflegefamilien kommen, die weniger kosten als der Unterhalt von Heimen. Unabhängig davon, ob sie in einer Hilfseinrichtung besser aufgehoben wären, wenn die eigene Familie ihr schlimmster Feind war. Die Frauen vom Jugendamt fänden es sinnvoller, wieder mehr Besuche vor Ort zu machen – anstatt immer mehr Anträge auf Weiterbewilligung stellen zu müssen.
„Die ganze Berufsgruppe Sozialarbeit bräuchte mehr Selbstbewusstsein“, sagt Brigitte Strube. „Aber wir sind da so wie die Leute, für die wir arbeiten“. Vielleicht wird eines Tages auch in der Vahr ein verhungertes Kind gefunden werden. Man würde sie dafür verantwortlich machen, ohne dass sie je von der Existenz dieses Kindes erfahren hätten. In der Politik wird gerade darüber diskutiert, ob man die frühen Säuglingsuntersuchungen verpflichtend machen sollte, damit bei auffälligen Befunden das Jugendamt informiert werden kann. Aber man ist sich nicht einig, ob das nicht doch zu stark in die Privatsphäre der Eltern eingreifen würde.
In einem Kindergarten in der Neuen Vahr gibt es jetzt einen Kurs, in dem die Eltern lernen, ihren Kindern die Zähne zu putzen. Und mit ihnen zu spielen. Man könnte denken, dass Eltern diese Dinge wissen. Aber sie tun es nicht. Elke Schröder und Brigitte Strube sind sehr froh über diesen Kurs. Friederike Gräff