Deutsche Chefs, bitte nachsitzen!

Die fortlaufende Weiterqualifizierung der Arbeitskräfte ist in Deutschland Sache der Bosse, nicht des Staates. Deshalb findet Fortbildung häufig nicht statt. Versuche zeigen: Viel besser läuft es, wenn die Beschäftigten selbst entscheiden oder wenn es einen dritten Financier fürs Weiterlernen gibt

VON ANNETTE JENSEN

Alle reden davon, dass Weiterbildung immer wichtiger wird. Dennoch sinken die Ausgaben dafür seit Jahren. Investierten die Unternehmen im Jahr 1998 noch 17,5 Milliarden Mark für Kurse und Schulungen, so waren es drei Jahre später nur noch 16,9 Milliarden. Das geht aus Berechnungen des industrienahen Instituts der deutschen Wirtschaft hervor. Zwar kommen die neuesten Zahlen erst in ein paar Wochen vor. Doch eines wissen die Forscher schon jetzt: Der Abwärtstrend hat sich fortgesetzt.

Nur jeder vierte Berufstätige in Deutschland nimmt an Fortbildungen teil. Während große Unternehmen ihre jungen Akademiker durchaus auch zu teuren Kursen anmelden, sind Ungelernte, Über-50-Jährige und Beschäftigte in kleinen Unternehmen beim Fortbilden völlig unterrepräsentiert. Auch Migranten tauchen nur sehr selten in Weiterbildungskursen auf. Dabei ist klar, dass Leute ohne Qualifizierung künftig noch weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben werden als heute schon. Zugleich kann es sich Deutschland schon aus Mangel an Nachwuchs nicht mehr leisten, die Ab-45-Jährigen ohne aktualisiertes Wissen der Rente entgegendämmern zu lassen.

Weiterbildung ist in Deutschland Sache von Betrieben und Beschäftigten. Doch tarifliche Vereinbarungen darüber sind bisher die absolute Ausnahme. Leuchtendes Beispiel ist in diesem Fall die Telekom. Auch die Gerüstebauer gelten als Vorbild. Sie haben einen gemeinsamen Fonds eingerichtet, aus dem Aus- und Weiterbildung bezahlt werden. In der Regel aber mangelt es vor allem bei kleinen Unternehmen an weitsichtiger Personalpolitik. „Wo es keinen Betriebsrat und auch keinen Personalverantwortlichen gibt, fühlt sich niemand für solche Fragen zuständig“, hat Claus Sobott von Arbeit und Leben Bielefeld beobachtet, der seit langem Qualifizierungen für die Belegschaften kleinerer Unternehmen organisiert. Ist man dann aber erst einmal im Gespräch, scheitern Weiterbildungen nach Sobotts Erfahrung viel seltener an Geldmangel als an der Frage, ob dafür Arbeitszeit draufgeht.

Was kann die Politik tun, damit die Beschäftigten in Deutschland sich fürs Weiterbilden interessieren? Um da neue Ideen zu sammeln, hat Nordrhein-Westfalen vor zwei Jahren ein Pilotprogramm aufgelegt. 5 Millionen Euro Fördergelder bekommt das Land aus Brüssel für Modellprojekte, die darauf abzielen, Ältere, Unqualifizierte und Migranten aus kleinen und mittelständischen Betrieben weiterzubilden. Verschiedene Ansätze sollen ausprobiert werden. „Es ist oft viel wichtiger herauszufinden, warum etwas nicht klappt als später eine zurechtgebogene Erfolgsstory präsentiert zu bekommen“, sagt Regina Hunke vom Landesinstitut für Qualifizierung, das für die Auswahl und Begleitung der 45 Modellversuche zuständig ist.

Antragsteller waren in der Regel Weiterbildungseinrichtungen. Obwohl sie Geld mitbringen, hatten viele von ihnen große Schwierigkeiten, überhaupt einen Fuß in die Tür von Unternehmen zu kriegen. „Wir hatten ein Angebot für Bau- und KfZ-Betriebe geplant, sind aber nirgends reingekommen“, berichtet eine Projektleiterin. Auch aus dem Hotel- und Gaststättenbereich werden viele Misserfolge gemeldet. „Die Chefs sagen einfach: kein Bedarf, obwohl der Bedarf sehr wohl besteht“, bestätigt eine Kollegin. „Ich spüre nicht selten die Angst der Geschäftsführer, dass ihre Mitarbeiter sie überflügeln könnten“, versucht Annelie Schettler von der Wuppertaler Volkshochschule das Phänomen zu ergründen. Auch die Befürchtung, der frisch qualifizierte Mitarbeiter werde sich bald abseilen, spielt wohl häufig eine Rolle. Unbedarfte Zeitgenossen könnten allerdings auch auf den Gedanken kommen, dass mancher Chef gar nicht versteht, was zum Beispiel Jean-Paul Giertz von der Hagener Agentur Mark sagen will, wenn er permanent mit Begriffen wie „Lernpromotoren“, „Matrix“, „Querschnittsfunktionen“ und „Bedarfsanalyse“ jongliert.

Doch auch die Beschäftigten sind oft alles andere als heiß auf eine Fortbildung. Eine Infas-Studie bestätigt, dass die meisten Menschen ohne Ausbildung Lernen mit sehr negativen Gefühlen verbinden. Quälende Schulerfahrungen haben Wissensdurst und Neugierde versiegen lassen. Von sich aus würden diese Menschen nie auf die Idee kommen, einen Kurs zu belegen. Notwendig ist deshalb eine „aufsuchende Bildungsberatung“, wie es im Fachjargon heißt.

Wie das konkret aussehen kann, hat das Lohmarer Institut für Weiterbildung bei vier Zulieferbetrieben ausprobiert. „Normalerweise entscheiden die Chefs, welchen Kurs ein Mitarbeiter besucht. Wir wollen den anderen Weg gehen“, berichtet Andreas Lackmann. Dass die Firmenleiter für das Vorhaben offen waren, verdankten die Projektmitarbeiter einer Empfehlung des Hauptkunden der Zulieferbetriebe.

80 Beschäftigte haben Lackmann und seine Kollegen befragt, welche Fertigkeiten sie zur besseren Bewältigung ihrer Arbeit benötigen. Stressmanagement, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Kommunikationstraining stehen nun oben auf ihrer Wunschliste. Hätten die Vorgesetzten entschieden, wären vermutlich ganz andere Schwerpunkte gesetzt worden. Anfang des kommenden Jahres sollen die Kurse beginnen.

Auch die Volkshochschule Duisburg hat es geschafft, sowohl die Belegschaft als auch die Chefs eines Gemüsegroßhandels für ein Bildungsangebot zu gewinnen. In dem Betrieb werden fast alle einfachen Tätigkeiten von Türken erledigt, die bis vor kurzem nicht einmal gebrochen Deutsch sprachen, berichtet die Projektverantwortliche Barbara Aldag. In der Verwaltung sei dagegen niemand des Türkischen mächtig. „Dauernd mussten die jemanden zum Dolmetschen organisieren, und das hat natürlich das Betriebsgeschehen aufgehalten.“ Inzwischen laufen drei Sprachkurse nach Schichtende und die Firma bezahlt 1 Euro pro Kopf und Stunde. Beide Seiten haben das Gefühl zu profitieren, beschreibt Aldag das Erfolgsrezept; schließlich können sich die Lernenden jetzt nicht nur besser mit den Vorgesetzten verständigen, sondern auch ihren Mietvertrag lesen.

Allerdings gibt sich VHS-Mitarbeiterin nicht der Illusion hin, dass das Unternehmen die Deutschkurse über den symbolischen Beitrag hinaus finanzieren würde. „Nur in der zweijährigen Projektphase haben wir das Glück, Geld mitzubringen“, so Aldag. Weil die Weiterbildung von Mitarbeitern in Deutschland aber Sache der Unternehmen und nicht des Staates ist, lässt sich das Projekt nicht einfach auf den Normalbetrieb übertragen.

„Mit Speck fängt man Mäuse“, hält Regina Hunke dagegen und führt mehrere Beispiele an, in denen Unternehmen den Impuls aus einer Projektphase aufgenommen haben. So schickt der Möbelmarkt Poko seine Beschäftigten nun auch ohne staatliche Fördergelder weiter zu Fortbildungen, weil die Chefs die Vorteile einer qualifizierteren Belegschaft offenbar erkannt haben. Und in Höxter und Paderborn finanzieren sieben Firmen sehr unterschiedlicher Größe jetzt gemeinsam ihre Personalentwicklung. Die ernüchternde Regel durchbricht das freilich nicht: Alle aus der Wirtschaft reden viel über die Notwendigkeit lebenslangen Lernens – bezahlen wollen sie dafür nicht.