: Merkel, umfangen vom Leben
Aus dem Blätterwald raschelte es auch 2005 hübsch irrsinnig heraus: Ganz wagemutig tätigte die Verbrecherversammlung den retrospektiven „Blick in die perverse Presse“
Zeitunglesen hat zuweilen etwas total Sinnloses. Die Monate des Wahlkampfs und der Regierungsbildung mit ihren mutigen Forderungen nach einem radikalen Wechsel ließen sich in der Nachschau wohl ohne große Ideenverluste auf zehn Prozent ihres Umfangs eindampfen. Was mich weiterhin täglich vier bis fünf Stunden Zeitungen lesen lässt, kann nur mit den tollen Artikeln zu tun haben, die einen mit dem ganz besonderen Irrsinn anspringen. Mit völlig schiefen Bildern zum Beispiel. Oder mit wahnwitzigem Pathos, mit glühender Begeisterung für Frauen in Ämtern und für die Band Tokio Hotel.
Jörg Sundermeier und Werner Labisch vom Verbrecher Verlag lesen solche Highlights immer wieder dienstags bei ihrer gemütlichen Kreuzberger Verbrecherversammlung vor. Diesmal standen nichts weniger als die schlimmsten Texte des Jahres auf dem Programm – dazu hatten die Veranstalter sich quer durch Dutzende Blätter kontrolliert. Die Auswahl an Schauerlichem war erwartungsgemäß zu groß, das öffentliche Gespött durfte sich mit einer etwas willkürlich anmutenden Zusammenschau begnügen.
Das Lieblingsneoconblatt Welt lieferte gleich mehrere Lach- und Sachgeschichten. „Wieviel Merkel steckt in Klinsmann?“ wollte ein Welt-Mann tatsächlich rausfinden und verstieg sich bei der Suche nach Vergleichsmomenten energiegeladen zum „Abenteuer Leistung“. Dass dies in der Merkel-Klinsmann-Kombi sogleich einen „neudeutschen Mentalitätsmix“ ergeben soll, brachte ihn dermaßen ins Rotieren, dass er Klinsmann zum „coolsten Deutschen seit Marlene Dietrich“ ausrief. Noch doller trieb es ein Tagesspiegel-Jubelkommentator, der mit Merkel die neue Zeit messianisch anrollen sah: „Sie ist es!“ frohlockte er – endlich gebe es „Wahrheit konkret“, endlich würden „dicke Bretter gebohrt“, endlich komme „die Koalition mit den Menschen“. Da ließ sich die Machtlyrik nur noch mit Anstrengung weiter verfeinern: Die Frau aus dem Osten sei nun „mitten im Leben vom Leben umfangen“.
Auch sehr hübsch eine Zeit- Rezension von André Hellers Exotismus-Revue „Afrika Afrika“. Ein eigentlicher Kulturmensch wurde vom Großveranstaltungsösi zu Top-Formulierungen getrieben – und war nicht dessen erstes Opfer: „Ein genialer Menschenkomponist“ sei Heller, sogar die in Baströckchen Tanzenden seien bei ihm „stets Vorführende, nie Vorgeführte“. Kein Wunder, dass sich so „Afrika erspüren“ ließe – verzichte Heller doch auf die allzu eindimensionale Darstellung von „Aidsplage und Diktatorenwillkür“. Zur Auflockerung brauchte es da schnell Auszüge aus einem Gütersloher Internet-Provinzblatt, das sich durch mehrere Autoaufbrüche veranlasst sah, einen Zero-Tolerance-Bürgermeister für Bertelsmann-City zu fordern.
Kein alter, geifernder Sack textete jedoch auch in diesem Jahr schöner als Franz Josef Wagner. Seine komplett irren „Briefe“ aus der Bild fungierten naturgemäß als Leckerli der bunten Presseschau. 2005 lagen FJW vor allem Knödel im Dirndl, zwei Bier am Feierabend, Angie als Köchin in Wagners Küche und das „Pissen wie ein Pferd“ am Herzen. Froh konstatierte er zudem: „Deutsche fassen sich gern an“ – und als kathartisches Jahresend-Bonmot eignet sich: „Lieber eine Bierleiche als eine Leiche im Irak.“ ANDREAS BECKER