: Der Tod der GewohnheitFrühjahr 2005
Die vielen Romane, Untiefen und Hypes des Jahres, die Wechselwirkungen von Literatur und politischem Engagement, die Debatten, die keine waren: Ein Rückblick auf das vergangene Literaturjahr Von Gerrit Bartels
Muss eine Ewigkeit her sein. Spontan spricht da keine Erinnerung. Wie jeder Proust-Leser weiß, trübt nicht das Vergessen die Erinnerung ein, sondern die Gewohnheit. Im Literaturbetrieb also die unablässigen Frühjahrs- und Herbstproduktionen, die kein Gestern kennen, keine Verschnaufpausen, und die schneller sind als die meteorologischen und kalendarischen Jahreszeiten. Trotzdem war da was: Wilhelm Genazinos schöner, melancholisch-verhangener und letzlich gar nicht so subtil gesellschaftskritischer Roman „Die Liebesblödigkeit“ mit einem gelernten Zivilisationsapokalyptiker als Hauptfigur. Walter Kempowski beendete sein „Echolot“, was zwar ohne essentielle Neuigkeiten, aber Kempowskis Leistung entsprechend gewürdigt wurde. Der Brite William Boyd überraschte mit dem schönsten und am hinreißendsten erzählten Roman des Frühjahrs, „Eines Menschen Herz“, und Andreas Maier befreite sich mit „Kirillow“ von seinem Oberverführer Thomas Bernhard und legte einen Roman vor, der schön auf den Grenzen von Kunst und Politik entlangspazierte, ohne abzustürzen.
Uwe Tellkamp
Hielt im Frühjahr mit „Der Eisvogel“ die junge Literaturkritik heftig auf Trab. Von heftiger Ablehnung („verschmockt“, „reaktionär“) bis zu leuchtender Begeisterung („politischer Zeitroman“, „raffiniert“) ging die Rezeption. Wer schon lange einmal mit Spaß, Pop und Ironie abrechnen wollte, hatte in dem ernsthaften, ironiefreien Tellkamp einen neuen Helden, und mit seinem Roman über den scheiternden, in einer Terrorgruppe landenden Rechtsintellektuellen Wiggo Ritter ein neues Heldenepos. Die Politik war zurück in der Literatur, bei Maier und Christoph Hein (und dessen schwachem Bad-Kleinen-Roman) von links, bei Tellkamp von rechts. Tellkamp aber blieb Einzelgänger, den flächendeckenden Neokonservatismus in der Literatur gab es in Folge nicht, und Tellkamps Gesinnungsgenossen sind alte Bekannte: die ungleich blasierteren Popliteraten der späten Neunzigerjahre. Das große Publikum konnte mit „Der Eisvogel“ jedenfalls wenig anfangen, es wendete sich im Herbst einmal mehr der Vergangenheit zu: Familie, Wende, Humboldt/Gauß. Als Kritiker aber, der mit „Der Eisvogel“ so gar nichts anfangen konnte, musste man sich zumindest eingestehen: So trefflich und gern wie über Tellkamp hat man sich lange nicht mehr mit seinen Kollegen gestritten.
Junge Verlage
Der Hype des Jahres. Verlage wie Blumenbar, kook books, Tropen oder Schirmer&Graf. Sympathisch, ohne Zweifel, aber außergewöhnlich? Einfach nur klein und neu und jung (was ja auch nur zum Teil stimmt) zu sein, reicht noch nicht für Profil und Perspektive. Größere Beweglichkeit, besseres Wirtschaften, intensivere Autorenpflege ist das eine; das andere ist, dass man sich bei den meisten Büchern der jungen Verlage diese auch bei Hanser oder Kiwi oder sonstwo hätte vorstellen können. Immerhin: Matias Faldbakkens Roman „Macht und Rebel“ und Camille de Toledos „Goodbye Tristesse“ könnten einmal Generationsfibeln werden
Matthias Politycki
Umtriebigster Literaturtrommler des Jahres, nicht zuletzt in eigener Sache. Mit seinen Kollegen Hettche, Schindhelm und Dean verfasste er im Sommer ein Positionspapier, das die Zeit als „Manifest“ annoncierte, dessen Hauptanliegen der „Relevante Realismus“ war. RR eben, das meint Blutdruck, aber auch so viel wie: eine sich der Gegenwart und den sozialen und politischen Realitäten bewusste Literatur, die kunstvoll arrangiert ist. Nichts Neues unter dem literarischen Sternenhimmel also (siehe etwa Andreas Maier oder Uwe Tellkamp), weshalb das Positionspapier auf mäßiges bis kein Interesse stieß. Nicht anders war das, als Politycki nachlegte. Ebenfalls in der Zeit prophezeite er weitschweifig den Untergang der westlichen Kultur und des Alten Europas und erklärte, warum er „erschöpft von der Vitalität der anderen, ausgerechnet in afrokubanischen Kulten wieder zu Kräften kam“. Damit legte er zugleich eine Gebrauchsanweisung für seinen neuen, etwas ermüdenden Roman „Herr der Hörner“ vor, in dem ein Hamburger Bankier auf Kuba der Magie und den religiösen Kulten der Einheimischen verfällt und erkennt, dass diese der westlichen Aufklärung überlegen sind. Essay und Roman wurden zum Unwillen Polityckis in Rezensionen gern abgeglichen, doch richtig reiben mochte sich keiner an Polityckis Thesen zu Globalisierung und Aufklärung. Politycki will trotzdem weiter trommeln. Nur fragt sich, wie er die „Repolitisierung unserer Branche“ (siehe „Zurück zur Politik“) in Einklang bringen will mit seiner Überzeugung, dass es auf Dauer nur unter Einbeziehung von „Glaube-Liebe-Hoffnung“ gehen kann. Denn so gar nichts hält Politycki von „überzeugten Atheisten, die das Zerschreddern unserer vertrauten Welt im Mahlwerk des Globalismus unverdrossen mit rein politischen Mitteln verhindern oder gar betreiben wollen“. Love, Peace & Politics also?
Preise
Sorgen seit je für erhöhte Aufmerksamkeit einer nur wenig an Literatur interessierten Öffentlichkeit, haben aber das Problem, dass der medial potenzierte Verleihungszauber suggeriert, jenseits der Preise gebe es keine gute Literatur. Philip Roth schafft es nie auf eine vordere Tageszeitungsseite – er bekommt den Nobelpreis einfach nicht. Während der erstmalig vergebene Deutsche Buchpreis an Arno Geiger die Erwartungen der Jury voll erfüllte (Bestseller!), dürfte es die Büchner-Preis-geehrte Brigitte Kronauer leider schwer haben, mit ihren kunstvollen, feinsinnigen Büchern ein größeres Publikum zu gewinnen. Deshalb gewinnt Kronauer auch nie den Deutschen Buchpreis.
Junge Literatur
Liegt danieder. Mittelmaß, Handwerk, Erfahrungsarmut, kein Roman, der „der Welt die Notwendigkeit seiner Existenz schuldet“ (RR-Verfechter Thomas Hettche). Das Einhacken auf die Schreibschulenliteratur aber ist ein so öder Selbstläufer geworden, dass man sofort andere Platten auflegen und Literatur aus Leipzig und Hildesheim nur noch feiern möchte. Tut man das wider seine Überzeugung, heißt es zu schweigen. Was schwer fällt, da die alljährlichen Wettbewerbe in Klagenfurt und Berlin (Open Mike) inzwischen eine Bedeutung haben, die im krassen Missverhältnis zur Qualität der dort vorgelesenen Texte steht.
Junge Literatur 2
Liegt doch nicht danieder. Der 1975 geborene Daniel Kehlmann steht mit „Die Vermessung der Welt“ seit drei Monaten zwischen den Dan Browns und Harry Potters ganz oben in den Charts. Toll, weil Kehlmanns Roman ein anspruchsvoller und trotzdem unterhaltsamer Roman ist über Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt. Dann Arno Geiger, 1968 geboren, ebenfalls Bestsellerautor mit seinem grundsoliden Familienroman „Es geht uns gut“ (siehe auch „Preise“). Schließlich Ingo Schulze, Jahrgang 1962, und sein grandioser Wenderoman „Neue Leben“. Was will man mehr? Vielleicht noch Thomas Lehrs Roman „42“, Eva Menasses „Vienna“, Terézia Moras „Alle Tage“, Ulrich Woelks „Die Einsamkeit des Astronomen“.
Zurück zur Politik
Fand die Politik im Frühjahr verstärkt in die Literatur Einlass, wollte im Frühherbst auch die deutsche Schriftstellergemeinde höchstselbst nicht zurückstehen und tat auf einmal so, als würde sie sich politisch engagieren. Um die Unterstützung von Rot-Grün im Wahlkampf ging es, um das Verhindern von Merkel/Westerwelle. Der alte Polit-Fahrensmann Günter Grass scharte eine Reihe jüngerer Autoren und Autorinnen um sich und wollte so den „ beängstigend vielen Schweigenden“ eine Stimme geben. Doch Freude und Anerkennung blieben aus, bei den beängstigend vielen Schweigenden wie in den Feuilletons. So stritt man sich ein wenig, erläuterte warum oder warum nicht, war beleidigt, zog sich ins Schneckenhaus zurück, zeigte sich nach dem Wahlkampf aber doch noch mal: in Lübeck, wo Grass, Eva Menasse, Michael Kumpfmüller, Benjamin Lebert, Katja-Lange Müller, Tilman Spengler und Matthias Politycki ganz offiziell zusammenkamen, um zu verkünden, dass sie ebendies in Folge einmal im Jahr tun werden. Auf diesen Treffen wolle man sich, so die politischen Sieben, aus neuen Manuskripten vorlesen, über Literatur reden, zur Not auch über Politik. Matthias Politycki sprach gar von der „Repolitisierung unserer Branche“. Diese zeigte sich in Lübeck aber nur in der Bereitschaft zum guten politischen Willen und zum Feuilleton-die-Stirn-bieten.
Politik
Stärker politisiert und engagiert sind die Schriftsteller anderswo, keine Rede da von „Repolitisierung“. Der englische Dramatiker Harold Pinter hielt eine wütende, bewusst übertreibende Nobelpreisrede und klagte die USA schlimmster Verbrechen an; Orhan Pamuk, internationaler Erfolgsautor aus der Türkei und Friedenspreisträger 2005, rührte mit seinen Äußerungen über den Massenmord an den Armeniern in der Türkei am heroischen Selbstverständnis seines Heimatlandes. Er muss sich deshalb wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht verantworten, ist aber entschlossen, der Türkei, für deren EU-Eintritt er sich einsetzt, Lektionen in Meinungsfreiheit zu erteilen.
Harold Pinter hatte kein Problem damit, eine radikal politische Rede zu halten als Dank für den Literaturnobelpreis; das Problem lag mehr bei seinen Rezipienten, die von einem Literaturnobelpreisträger eine poetisch reich durchsetzte Ansprache erwarten oder zumindest eine politische mit ein paar poetischen Einsprengseln. Orhan Pamuk wiederum gab seinem auch für seine Literarizität gefeierten Roman „Schnee“ das Etikett eines erstmals politischen Pamuk-Romans. Er wusste dann im Zug der Friedenspreisverleihung und des Prozesses gegen ihn genau zu trennen zwischen Politik und Poesie; so genau, dass es schon wieder irritierend war, als er hierzulande auf „Schnee“-Lesetour ging, den politischen Autor Pamuk außen vor ließ und ausschließlich als Romancier behandelt werden wollte. Das Verhältnis zwischen Literatur und Politik bleibt spannungsreich, und wenn politisch engagierte Schriftsteller in ihrer Doppelrolle scheinbar problemlos aufgehen, tut sich die Literaturkritik umso schwerer, zumal die deutsche.
Herbst 2005
Ist noch keine Ewigkeit her, geriet aber spätestens mit dem Ende der Frankfurter Buchmesse in Vergessenheit. War aber ein toller Jahrgang, der zu dem Vorsatz inspirierte, demnächst mal eine Saison ohne deutschsprachige Literatur seine Freizeit zu gestalten. Colm Tóibíns feiner Henry-James-Roman „Porträt des Meisters in mittleren Jahren“ (für den man kein Henry-James-Kenner sein muss), A. L. Kennedys großartige Säuferinnen-Geschichte „Paradies“, Nicole Krauss’ „Geschichte der Liebe“, Hollinghurst, Ishiguro, Wolfe, Houllebecq – lauter große Namen und grundgute Romane.
Frühjahr 2006
Hat schon begonnen. Nach dem Spiel ist bekanntlich vor dem Spiel. Und so stehen im Januar an: Neue Bücher von Bret Easton Ellis, Salman Rushdie, John Irving oder dem Bachmann-Preis-Gewinner 2005, Thomas Lang. Später folgen Paul Auster, Margriet de Moor, Elke Naters, Benjamin Lebert, Elke Schmitter und viele mehr. Wer sich verweigert: Joachim Unseld mit seiner Frankfurter Verlagsanstalt (FVA). Er setzt ein Frühjahr aus. Unseld will ein Buch seines Lieblingsautors Jean-Philippe Toussaint übersetzen. Sagt er. Die Zeiten sind hart. Sagen andere. Vielleicht geht es Unseld aber auch ganz proustisch um den Tod der Gewohnheit, auf dass sich seine Leserschaft einmal der älteren FVA-Programme erinnere. Auch eine Perspektive, gerade in einer Branche, die sich was darauf einbildet, hohe, langlebige Kulturgüter zu produzieren.