: Linke Tickets ohne Wert
Die SPD steckt in ihrer tiefsten Krise seit 1945. Der dramatische Wählerschwund hat nicht nur mit Schröder zu tun. Der Vertrauensverlust begann vor langem in den Kommunen
Auf den ersten Blick scheint die SPD ganz gut aufgestellt: In der Regierung der großen Koalition stellt sie mehr Minister als die Union; mit der Wahl von Matthias Platzeck zum neuen Parteivorsitzenden konnte auf dem Karlsruher Parteitag der Generationenwechsel an der Parteispitze vollzogen werden, und dies in ungewohnter Harmonie und Geschlossenheit.
Doch in Wirklichkeit befindet sich die SPD in ihrer tiefsten Krise in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Bei der Bundestagswahl am 18. September wurde sie nur noch von rund einem Viertel aller Wahlberechtigten gewählt. Noch geringer war das Vertrauen zur SPD nur bei den ersten Bundestagswahlen 1949 und 1953 und der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990. Damit setzt sich ein für die SPD negativer Trend auf Bundesebene fort, der zuvor schon auf lokaler und Länderebene begonnen hatte.
So stellt die SPD nur noch in 3 der 13 Flächenstaaten den Ministerpräsidenten. Während die SPD in der Adenauer-Erhard-Ära ihr Wählerpotenzial bei Landtagswahlen voll mobilisieren konnte, wurden die Mobilisierungsdefizite der SPD in den 80er- und 90er-Jahren immer größer, obwohl die SPD im Bund in der Opposition war. So wählten bei den Landtagswahlen zwischen 1983 und 1987 noch 31 von 100 Wahlberechtigten die SPD. Bei den Landtagswahlen zwischen 1994 und 1998 gaben nur noch 24 und bei den Landtagswahlen nach 2002 nur noch 18 von 100 Wahlberechtigten der SPD ihre Stimme.
Noch stärker geschrumpft ist die Vertrauensbasis der SPD auf lokaler Ebene. Stellte sie lange Zeit in den Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern (bis auf Stuttgart) den Oberbürgermeister, haben jetzt 7 der großen Metropolen in Deutschland ein Stadtoberhaupt, das der Union angehört. Nur noch in 5 Großstädten gibt es einen SPD-Oberbürgermeister.
Wie schwach die Vertrauensbasis der SPD vor Ort geworden ist, zeigt sich auch daran, dass bei der jeweils letzten Kommunalwahl etwa in Köln nur 15 und in Frankfurt am Main 13 von 100 Wahlberechtigten die SPD gewählt haben. Vergleicht man die Ergebnisse dieser Kommunalwahlen mit denen in den 60er-Jahren, als die SPD das höchste Vertrauen vor Ort genoss, dann hat die SPD in Köln und Frankfurt jeweils über 60 Prozent ihres ehemaligen Wähleranteils verloren.
Dieser dramatische Wählerschwund ist nicht – wie in der SPD seit Jahren als Schutzbehauptung zu hören – auf eine vorgebliche „Unregierbarkeit der Städte“ zurückzuführen, sondern auf eine schlechte Kommunalpolitik und ein vom Bürger als mangelhaft empfundenes inhaltliches und vor allem auch personelles Angebot der SPD vor Ort.
Am Beispiel des Landes Nordrhein-Westfalen kann man im Übrigen sehen, dass die Verluste der SPD auf lokaler Ebene am größten, die auf Bundesebene noch am geringsten sind. So beträgt der Wählerschwund in NRW auf lokaler Ebene zwischen 1964 und 2004 51 Prozent, auf Landesebene zwischen 1985 und 2005 41 Prozent und auf Bundesebene zwischen 1972 und 2005 33 Prozent. Verglichen wurde die jeweils letzte Wahl auf den einzelnen Politikebenen mit der jeweiligen Wahl, bei der die SPD bislang die meisten Stimmen erhalten hatte. So wie in den 50ern und 60ern das lokale Vertrauen der SPD vor Ort ein Vehikel für den positiven Trend der SPD auf der Ebene der Landes- und Bundespolitik war, so zieht das verlorene kommunale Vertrauen jetzt SPD-Verluste auch auf Landes- und Bundesebene nach sich.
Die Hoffnung der SPD, durch gute Arbeit ihrer Minister in der großen Koalition wieder verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen, dürfte deshalb vor dem Hintergrund dieses langfristigen Negativtrends trügerisch sein, zumal die der SPD am 18. September verbliebenen Wähler mit der neuen Regierung auch deutlich weniger zufrieden sind als die Wähler der Union. Die CDU/CSU-Wähler sind alleine froh darüber, dass sie wieder an der zentralen Macht in Deutschland beteiligt sind und dass das wichtigste Amt im Staat, das Kanzleramt, von der Union besetzt wird. Die SPD-Wähler aber, die sich Schutz vor den Grausamkeiten erhofften, die Angela Merkel ankündigt hat, sind über diese Koalition alles andere als glücklich.
Wie unzufrieden die SPD-Wähler sind, zeigt sich auch daran, dass bereits jeder vierte Wähler vom September zögern würde, der SPD jetzt wieder die Stimme zu geben. Hinzu kommt, dass mögliche Erfolge der neuen Regierung weniger der SPD, die das Land ja nach Meinung vieler Bürger sieben Jahre lang eher schlecht regiert hat, als vielmehr der Union und Kanzlerin Merkel zugeschrieben werden. Hatten vor der Wahl selbst Anhänger der Union noch massive Vorbehalte gegen die Kandidatin Angela Merkel, so sind sie nach ihrer Wahl zur Kanzlerin verflogen. Merkels persönliche Werte sind inzwischen vergleichbar mit denen von Gerhard Schröder in seinen besten Zeiten.
Eine kurzfristige Erneuerung der SPD von oben aus der Regierung ist also kaum zu erwarten. Und eine nachhaltige und dauerhafte Renaissance der SPD ist ohne eine Erneuerung von unten nicht denkbar; denn anders als die CDU, die immer eher an der zentralen Macht im Staat denn an regionaler Verankerung in der Wähler- und Bürgerschaft interessiert war, braucht die SPD eine lokale Vertrauensbasis, um auch auf Landes- und Bundesebene wählbar zu sein. Die SPD, die bislang – anders als die Union – kaum Seiteneinsteiger in ihren Reihen duldete, benötigt diese Verankerung vor Ort auch, um Nachwuchs zu rekrutieren. Der Wegfall der lokalen Vertrauensbasis ist somit auch einer der Gründe für den derzeitigen personellen Notstand der Partei auf allen Ebenen.
Nur wird eine Erneuerung der SPD von unten kaum durch nostalgische Reminiszenzen an eine alte Ortsvereins-Romantik erfolgen können. Dazu sind die Mitgliederbasis und der Parteiapparat inzwischen viel zu schwach. Früher konnte die SPD die Wählerschaft mit dem Netz ihrer Mitglieder durchdringen. Heute ist das längst nicht mehr möglich.
Die Erneuerung der SPD kann also nur durch eine Synthese aus Resten der alten integralen Mitgliederpartei mit Elementen der amerikanischen „Wahlmaschine“-Partei erfolgen. Hier wird die SPD, will sie im politischen System überleben, neue Ideen zur Ansprache und Betreuung der Menschen vor Ort und zur Planung und Durchführung von Wahlkampagnen entwickeln müssen.
Und die SPD bedarf einer neuen Linken; denn die hat sie seit Jahren nicht mehr. Sie hat nur Figuren wie Heidemarie Wieczorek-Zeul oder Andrea Nahles, die mit Hilfe eines linken Tickets ihre eigene Karriere befördern wollten, ohne dass sie jemals wirklich durchdachte Gesellschaftsmodelle für morgen entwickeln konnten. Das aber braucht eine moderne linke Volkspartei, die nicht wie die WASG nur aus nörgelnden, rückwärts gewandten Querulanten oder opportunistischen, nur am eigenen Ego orientierten Pseudo-Linken wie Oskar Lafontaine besteht. MANFRED GÜLLNER