: Hier geht es eben ums Shoppen
STADTGESCHICHTE Kultur? Woanders! Essen gehen? Wozu! Die Schloßstraße in Steglitz konzentriert sich mit massig Möglichkeiten zum Einkaufen auf das Wesentliche – und hat genau damit wieder Erfolg
VON UWE RADA
Auch Ernst Reuter war gekommen. Westberlins Regierender Bürgermeister wusste um die symbolische Botschaft, die von diesem 18. Juli 1952 ausgehen würde. Erstmals nach dem Krieg wurde im Westteil der Stadt wieder ein Kaufhaus eingeweiht – der Neubau von Wertheim in der Steglitzer Schloßstraße. „Sie alle kennen das Schicksal, das das Haus Wertheim im letzten Krieg und in den Nachkriegsjahren genommen hat“, erinnerte ein Vertreter des Kaufhaus-Konzerns an diesem regnerischen Freitag. 1937 war Wertheim von den Nazis enteignet worden, 1944 war das von Alfred Messel gebaute Kaufhaus an der Leipziger Straße, seinerzeit das größte Warenhaus Europas, den Bomben zum Opfer gefallen.
„Geblieben war lediglich der stolze Name“, sagte der Wertheim-Vertreter. „Aus den kleinsten Anfängen ist dann in den Nachkriegsjahren die Firma Wertheim wieder aufgebaut worden, und heute eröffnen wir das erste Haus, welches wieder würdig des Weltnamens Wertheim ist.“ Das Grundstück an der Schloßstraße hatte der Konzern bereits 1928 erworben. Doch die Weltwirtschaftskrise stoppte den Bau. Übrig blieb nur eine riesige Grube, die mit dem Neubau und der Eröffnung 1952 aber vergessen war.
Schloßstraße: der Name war im Nachkriegsberlin ein Versprechen. Während an Ku’damm und Tauentzien noch die Kriegsschäden beseitigt wurden, war der Boulevard im Südwesten quicklebendig. Zwei Jahre nach der Eröffnung von Wertheim feierte Theodor Heuß an der Schloßstraße im Titania-Palast die Ernennung zum Bundespräsidenten. Dort hatte 1951 auch die erste Berlinale stattgefunden.
Lange währte die Freude über die Eleganz nicht. Bereits 1969 wurde Wertheim an der Schloßstraße umgebaut. Anstelle der eleganten Fassade aus der Zeit der Wiederaufbaueuphorie wurde dem Kaufhaus nun eine Lamellenfassade verpasst. Die Zeit des Versprechens war zu Ende. 1972 schließlich teilte der Neubau der Tiburtiusbrücke die Schloßstraße und mit ihr Steglitz in einen besseren Süden und einen vernachlässigten Norden. Ein Tiefpunkt in diesem Norden war die Einweihung des Forums Steglitz 1970. Mit dem einst so eleganten Wertheimhaus konkurrierte nun eine Schuhschachtel – am Ku’damm lachten sie sich ins Fäustchen.
Primark als Argument
Gamze Wierth kennt die Geschichte der Schloßstraße nicht. Mit ihrer Gegenwart ist die Neuköllnerin aber bestens vertraut. Zusammen mit ihrer Freundin geht die 15-Jährige am liebsten shoppen – auch in die Schloßstraße. Und die hat wieder etwas zu bieten. „Primark, das ist natürlich ein Argument“, sagt Gamze und findet, dass die Billigmodekette, die vergangenes Jahr ihre erste Filiale in Berlin eröffnet hat, für die Schloßstraße spricht.
Als bekannt wurde, dass Primark ins „Schloss-Strassen-Center“ (SSC) am Walther-Schreiber-Platz zieht, war von einer Krise der Straße keine Rede mehr: das SSC galt als Problemfall unter den Einkaufscentern an der Schloßstraße, doch die Entscheidung der Iren verschaffte dem SSC wieder ein volles Haus – und wurde als wichtiges Signal für die Schloßstraße gewertet.
Natürlich hat auch Gamze Wierth den Rummel um die Primark-Eröffnung beobachtet. Ob das neue Label auch ihr Bild von der Schloßstraße aufhübscht, weiß sie noch nicht. Noch hat sich am Ranking ihrer Einkaufsmeilen in Berlin nichts geändert. „Am liebsten bin ich am Hackeschen Markt, dann kommt der Ku’damm, gefolgt von den Potsdamer Platz Arkaden.“ Gamze lacht. „Die Schloßstraße kommt ganz am Schluss.“
Parkhäuser als Plus
Regina Ross weiß ums etwas angestaubte Image der Schloßstraße. Drei Jahre lang koordinierte sie das sogenannte Schloßstraßenmanagement, ein EU-Projekt, das vor allem der Vernetzung der Gewerbetreibenden diente. „Die Schloßstraße hatte eine lange, unspektakuläre Zeit hinter sich“, blickt Ross zurück. „Doch nun hebt sie sich wieder aus der Masse heraus.“
Misst man den Erfolg einer Einkaufsstraße in Zahlen, kann das Steglitzer Schaufenster durchaus mit den Großen in Berlin konkurrieren. 200.000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche gibt es zwischen Walther-Schreiber-Platz und Rathaus Steglitz, damit liegt die Schloßstraße hinter Ku’damm und Tauentzien auf Platz zwei. Und dann gibt es da noch einen besonderen Rekord. Mit insgesamt vier Shoppingmalls ist die Schloßstraße die wohl amerikanischste Einkaufsstraße Berlins. Das bestätigt indirekt das Branchenblatt Immobilien Zeitung. Zwar liege die Schloßstraße, gemessen an den Passantenzahlen, sogar hinter der Wilmersdorfer Straße und ihrer Fußgängerzone. Allerdings werde in Steglitz mehr gekauft, zitiert das Blatt Nicolas Jeissing von der Maklergesellschaft Engel & Völkers. Der Grund seien die vielen Parkhäuser. Wer in den Malls einkaufen gehe, parke dort mit dem Auto, erledige seine Besorgungen und verlasse Steglitz wieder, ohne auf der Straße gezählt zu werden. Damit, so Jeissing, gehöre die Schloßstraße „zu den Aufsteigern Berlins“.
Regina Ross freut sich über solche Erfolgsmeldungen. Die anderen, weniger positiven, bringen sie nicht mehr aus der Fassung. Auch nicht der Vergleich mit dem Ku’damm und seinen Seitenstraßen, dieser noch immer urbane Ort, in dem die Cafés und Restaurants auch nach Geschäftsschluss voll sind. „Es stimmt, dass die Schloßstraße keine kulturellen Highlights hat“, gibt Regina Ross zu. „Dafür ist sie die einzig wahre Einkaufsstraße in Berlin. Hier geht es eben nur ums Shoppen.“
Das Kreischen der Teenager war auf der Schloßstraße nicht erst beim Opening von Primark zu vernehmen. Auch am 3. April 2012 drängelten sich Hunderte junger Mädchen, um zu den Ersten zu gehören. Im neuen „Boulevard Berlin“, neben „Forum Steglitz“, „Schloss-Strassen-Center“ und „Das Schloß“ das vierte Shoppingcenter in der Straße, öffnete die erste Berliner Filiale der amerikanischen Modekette Hollister. Wie bei Primark sind es die Jugendlichen, an die sich Hollister richtet.
Mit der Eröffnung des „Boulevards Berlin“ ist der Umbau der Schloßstraße zur Einkaufsstraße abgeschlossen. 200.000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche sind das Ende der Fahnenstange“, findet Regina Ross, die Managerin der Straße. Zeit also, Bilanz zu ziehen. Hat die Schloßstraße die Erwartungen erfüllt? Mausert sich Steglitz mit seiner Einlaufsmeile zum neuen, hippen Quartier des modernen Bürgertums? Oder beginnt an der Schloßstraße nun jene Kannibalisierung des Einzelhandels, die auch schon an anderen Standorten zu beobachten ist?
Britta Kastner hat sich für ihre Bilanz Zeit gelassen. Drei Jahre lang beobachtete die Geografin die Entwicklung an der Schloßstraße, bevor sie 2010 ihre Diplomarbeit an der Humboldt-Universität vorlegte. Ihr Fazit: Die bis zu diesem Zeitpunkt existierenden drei Einkaufscenter hätten keine negativen Auswirkungen: „Die Einzelhandelsstruktur der Schloßstraße ist innerhalb des Untersuchungszeitraums weitgehend stabil geblieben.“
Etwas weniger optimistisch sieht es Kristina Pezzei. Auch sie ist Geografin, arbeitet beim Thünen-Institut in Braunschweig. Ihren Wohnsitz hat sie aber weiterhin in Steglitz. Dort beobachtet sie die Entwicklung der Schloßstraße seit sieben Jahren. „Gegenüber dem Ku’damm hat die Schloßstraße gleich zwei Vorteile. Sie ist kompakter und das Angebot der neuen Einkaufscenter ist moderner. Eine gelungene Mischung zwischen Gropiuspassagen und exklusiven Flagship-Stores.“ Langweilig und erfolgreich sei das. Aber auch Pezzei weiß, dass das nicht reicht, um das Image einer Provinzhauptstraße zu verbessern. „Die Touristen“, sagt sie, „werden nie in die Schloßstraße kommen.“
Was Pezzei skeptisch macht, ist nicht das Überangebot an Einzelhandelsflächen, sondern der städtebauliche Egoismus, der inzwischen von der Einkaufsmeile ausgeht. „Die Schloßstraße hat es geschafft, aber Steglitz hat nicht davon profitiert.“ Im Gegenteil, findet Kristina Pezzei. „Gleich in den Seitenstraßen beginnt das Quartier zur Hinterhofsituation der Geschäfte zu werden.“
Aber es gibt eine Ausnahme. Auch auf seiner Rückseite setzt der „Boulevard Berlin“ neue Akzente. Fast nahtlos geht der gastronomische Bereich der jüngsten Mall der Schloßstraße in den Harry-Breslau-Park über. War der früher eine Trinkeroase, hat Steglitz nun einen neuen Platz dazugewonnen. Vielleicht schlägt der „Boulevard Berlin“ ja ein neues Kapitel in der Architektur des Einkaufens auf. Weg vom Egoismus. Hin zur Stadt.
■ Dieser (gekürzte) Text ist in dem von der Berliner Architektenkammer herausgegeben Buch „Architektur Berlin, Band 2“ erschienen