FAHRRADFAHREN IN WARSCHAU
: Ein knallfarbener Blouson

Nebensachen aus Polen

VON GABRIELE LESSER

Veturilo heißt das Zauberwort. Ganz Warschau ist im Fieber. Ich bin auch infiziert. Als ich vor ein paar Tagen an meiner Metro-Station die Ausleihstation mit 20 nagelneuen, chromblitzenden Fahrrädern sah, war es um mich geschehen. Ich las die Instruktion durch, lief wie hypnotisiert nach Hause, registrierte mich online, bezahlte per E-Banking meinen Obolus in Höhe von gerade mal 2,50 Euro und bekam postwendend eine SMS mit meinem Veturilo-Passwort. Unglaublich! Das Ganze dauerte vielleicht fünf Minuten.

Die Venturilo-Räder sind in Warschau wahnsinnig populär. Begonnen hat alles 2012 mit zunächst 55 Stationen, 1.000 Leihrädern und in nur drei Stadtteilen. Dieses Jahr sind schon 1.500 Räder und drei weitere Stadteile hinzugekommen. Glücklicherweise auch meiner.

Morgens laufe ich gerne eine Runde im nahe gelegenen Park Pole Mokotowskie und schaue, ob schon Wasser im künstlichen Teich ist oder neue meist sehr rätselhafte Freiluft-Kunstwerke aufgestellt wurden. Am letzten Montag aber lief ich zur Metro. Da standen sie, ein bisschen nass vom Morgentau, chromblitzend und neu in der Sonne. Die Veturilos. An der Säule gab ich meine Handynummer, das Passwort, die Radnummer ein, und bekam den Code für das Zahlenschloss. Mein Begleiter tat es mir nach. Fünf Minuten später bogen wir an der Nationalbibliothek in den Pole Mokotowskie ab. Für uns war es der erste Fahrradausflug nach Jahren.

Der frühlingshafte Fahrtwind wirbelt die Haare durcheinander, Vögel zwitschern. So kann der Tag beginnen! Dummerweise dreht sich bei der nächsten scharfen Kurve zwar mein Lenker, nicht aber das Vorderrad. Nerven behalten! Bremsen. Anhalten. Eine Werkzeugtasche gehört nicht zur Ausrüstung. Wahrscheinlich würde sie sofort geklaut. Doch der Lenker ist locker. Was tun? Wir richten ihn und entscheiden weiterzufahren, aber scharfe Kurven zu meiden oder ganz langsam zu nehmen. Okay. Das geht. Aber die erste Lektion sitzt: Vor dem Ausleihen das Rad checken!

Nach einer halben Stunde stehen wir wieder am Ausgangspunkt. Wohin jetzt? Über die Brücke in den kleineren Teil des Parks und bis zur Politechnika. Doch – die Brücke hat es in sich. In langen Serpentinen geht es nach oben. Erster Gang, dann die Kurven, die mein Lenker diesmal halbwegs verkraftet, und auf der anderen Seite das Gleiche bergab, dritter Gang, bremsen – und Gegenverkehr: ein breiter Kinderwagen mit Zwillingen. Das ist zu eng für alle Beteiligten. Wir weichen auf den schmalen Fußgängerweg aus. Es klappt. Gut fünf Minuten später stehen wir schon an der Kreuzung. Sechsspurig. Aber, oh Wunder, es gibt einen Radweg! Als die Ampel für die Autos rot zeigt, startet vor mir ein Pulk von ungefähr zehn Radfahrern. Ich bin die Letzte. Ich bin an der Reihe. Die Ampel für Rechtsabbieger schaltet auf grün, diejenige für Radfahrer und Fußgänger steht aber auch auf grün. Ein weißer Mercedes rast los, dem Fahrer scheint nicht klar zu sein, dass sein Grün nur dann gilt, wenn auf dem Zebrastreifen und Radweg niemand geht und fährt. Im letzten Moment kann ich abspringen und das Rad zurückreißen. Sicher auf der anderen Straßenseite angekommen, sitzt mir der Schreck noch in den Gliedern. Als ich das Rad zurück zur Station bringe, weiß ich, was ich am nächsten Tag kaufen werde: einen Fahrradhelm und einen Blouson in knallig leuchtendem Gelb.