: Gefährliche Machtspiele
In Japan verdrängt 60 Jahre nach Hiroshima eine neomilitaristische Politik den bislang dominierenden Pazifismus. Konflikte mit den Nachbarländern sind unvermeidlich
Wie an jedem Neujahrsfest sind wieder Millionen Japaner zu ihren Tempeln und Schreinen gepilgert. Einer davon, der Yasukuni-Schrein in Tokio, ist weltweit in die Schlagzeilen geraten, weil die japanische Rechte mit ihm eine fatale Geschichtspolitik treibt, für ganz gegenwärtige Zwecke.
Sechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs macht sich Japan genau wie Deutschland außenpolitisch selbstständiger und tritt auch militärisch „out of area“ an. Doch: Werden Einsätze der Bundeswehr in Afghanistan und im Kosovo postnational und universalistisch begründet, ist Japans Anschluss an alte Sonderwege unübersehbar. Dementsprechend irritiert es die Japaner, dass mitten im Berliner Regierungsviertel ein Holocaust- Mahnmal gebaut wurde, das deutsche Täterschaft und die Mitverantwortung nachgeborener Generationen unübersehbar dokumentiert. Die meisten Japaner sehen sich als Opfer des Zweiten Weltkriegs, wofür vor allem die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki stehen.
Vor diesem Hinterrund mag das heutige Japan nur ungern seine Täterschaft im so genannten Großasiatischen Krieg zugeben: nicht die Überfälle auf asiatische Nachbarn seit 1931, nicht das Massaker von Nanking im Jahr 1938, bei dem tausende Frauen vergewaltigt und 300.000 Zivilisten massakriert wurden, nicht die Massenverschleppung so genannter Trostfrauen in Kriegsbordelle.
Dieses auf Japan zentrierte Weltbild droht nun allerdings für die gut erholte Wirtschaftsmacht kontraproduktiv zu werden. Auf regionalen Wirtschaftsgipfeln wie jüngst beim äußerst frostig verlaufenen Asean-Treffen in Kuala Lumpur kommt die Rede immer wieder auf die Besuche, die der japanische Premierminister Koizumi in offizieller Eigenschaft am Yasukuni-Schrein unternimmt, zuletzt im Oktober.
An dem unweit vom Kaiserpalast gelegenen Schrein gedenkt man seit der Meiji-Zeit, Japans Eintritt in die moderne Nationalstaatlichkeit, an Kriegstote, darunter die Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Dazu zählen, und zwar erst seit einer Geheimaktion im Oktober 1978, vierzehn Kriegsverbrecher der ersten Kategorie, die beim Tokioter Tribunal 1945 zu langen Haftstrafen oder zum Tode verurteilt worden sind. Yasukuni ist keine Grab- oder Gedenkstätte, hier werden der shintoistischen Tradition nach die ruhelosen Seelen der toten Krieger der Armee des Tenno „registriert“, um sie zu besänftigen. Seit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ist diese Einrichtung auch eine Möglichkeit, dem Tod fürs Vaterland einen höheren Sinn zu verleihen, in einer seit Hiroshima weithin pazifistisch ausgerichteten Gesellschaft.
Die seltsame Mischung aus Pazifismus und Neomilitarismus blockiert die japanische Politik seit längerem. Zwar ist der Kaiser längst als Mensch entzaubert, auch sind Staat und Religion offiziell getrennt, der Yasukuni-Schrein also nur ein religiöser Verband unter anderen. Aber in den letzten Jahren hat sich dort ein offizieller Kult etabliert, der die Sicht auf die Nachkriegszeit gründlich revidieren will, vor allem die ohnehin nur verschämte Anerkennung der Tatsache, dass der Krieg in Asien zwischen 1931 und 1945 eine japanische Aggression darstellte.
Wer die dem Schrein benachbarte Ausstellung im Yushukan besucht, begreift schnell, dass hier eine völlig konträre Sicht der jüngsten Vergangenheit propagiert wird: Japan habe den Krieg geführt, um die Völker Asiens vom Joch des westlichen Kolonialismus zu befreien und sich selbst gegen amerikanische wie russische Zumutungen und Angriffe zu verteidigen. Im letzten Raum verschmelzen die Bilder japanischer Märtyrer mit Ikonen der nationalen Befreiungsfronten wie Ho Chi Minh.
Chinesen und Koreaner sind zu Recht empört, dass ein Premier diesem Ort wiederholt besucht – selbst wenn er sich bei den Opfern der japanischen Aggression summarisch entschuldigt. Der ostentative Besuch richtet sich an eine neonationalistische Strömung, die den Staats-Shintô wieder als politische Religion einführen, ihn also aus den buddhistischen, christlichen und anderen Religionsgemeinschaften hervorheben will. Dazu passen Anstrengungen, das nationalistische Weltbild in Schulbüchern zu verankern.
Zwar hat das Musterbuch einer rechtsgerichteten Organisation bei weitem nicht die erhoffte Verbreitung gefunden, aber die zaghafte Erwähnung der Zwangsprostitution ist in vielen Texten wieder getilgt worden. Auch in den Massenmedien und in der der Öffentlichkeit ist das Thema weitgehend tabu; ein von Frauengruppen organisiertes „Aktives Frauen-Friedens-Museum“ führt eine Schattenexistenz in einem Nebengebäude der Waseda-Universität.
Mehr als 100 Parlamentarier der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP), Dutzende von Graswurzelkampagnen und einige Gemeinden unterstützen das Vorhaben, den Yasukuni-Schrein praktisch als Nationaldenkmal zu etablieren. Die außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Kollateralschäden dieser Kampagne sind jedoch so gravierend, dass selbst eingefleischte Hardliner der LDP ihren Premier anflehen, die Besuche am Schrein künftig zu unterlassen. Man braucht die asiatischen Märkte und auch Einwanderer aus Nachbarländern, da die japanische Bevölkerung schon ab nächstem Jahr schrumpfen wird. Koizumi, durch seinen jüngsten Wahlsieg gestärkt, stellt sich stur; er macht Koizumi Gedkijo (Koizumi-Theater), wie das gerade gewählte Wort des Jahres in Japan heißt.
Der begrenzte Konflikt mit China scheint nicht unerwünscht – wohl im Einklang mit der US-Außenpolitik, die auf Eindämmung des pazifischen Rivalen dringt und Japan als zuverlässigen Partner im Krieg gegen den Terror aufbaut. Die meisten Japaner lehnen die Schrein-Besuche ihrer hochrangigen Politiker ebenso ab wie den Irakeinsatz japanischer Soldaten. Auch wäre die Mehrheit kaum dafür zu begeistern, wenn sich Japan wieder als pazifische Seemacht und zivile Nuklearnation gerieren würde. Doch andererseits lässt sich kaum ein Japaner gern Lektionen erteilen von einem Nachbarn wie China, das Schulbücher weit mehr zensiert und Menschenrechte ignoriert.
Man kann nicht bestreiten, dass die chinesische Regierung die Gefühle der Überlebenden und Hinterbliebenen für eine Anti-Japan-Fronde instrumentalisiert. Dabei kann der Yasukuni-Streit eine Serie innerasiatischer Rangeleien nach sich ziehen, bis hin zu den offenen Konflikten zwischen China und Indien beziehungsweise dem irgendwann vereinten Korea.
Hat die europäische Geschichtspolitik über Hekatomben von Toten von nationalistischen Alleingängen Abstand genommen, ist in Ostasien die Aufrechnung voll im Gange, werden der Zweite Weltkrieg wie der Kalte Krieg rhetorisch weiter gefochten. Interessanterweise lässt die japanische Rechte ein Instrument ungenutzt, das doch leicht gegen Amerika zu wenden wäre: Hiroshima ist in der Propagandaausstellung am Yasukuni-Schrein nur eine Fußnote.
CLAUS LEGGEWIE