: Eine ganze Nation im Play-Modus
DISKUSSION Ein Austausch über das Spannungsfeld von öffentlichem und digitalem Raum in der AdK
Seit der Jasminrevolution 2010 in Tunesien wurde immer wieder die Rolle der digitalen Vernetzung für die Proteste in der arabischen Welt hervorgehoben. Im Internet und in sozialen Netzwerken wurde der Aufstand geprobt. Die Entscheidungen aber fielen auf der Straße, auf dem Boulevard Bourguiba in Tunis oder dem Tahrirplatz in Kairo. Diesem Wechselverhältnis widmete sich die Konferenz „Rückeroberung des Öffentlichen. Kultur im Spannungsfeld von öffentlichem und digitalem Raum“, zu der das Goethe-Institut am Montag und Dienstag internationale Wissenschaftler und Künstler in die Akademie der Künste eingeladen hatte.
Unter dem Titel „Vernetzung und Hoffnung“ sprachen der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, der Autor Florian Kessler und die Kuratorin Lena Prents mit der ägyptischen Künstlerin Bahia Shehab über das Verhältnis von digitaler Kommunikation und konkretem Handeln. „Ich muss zugeben, dass ich Anfang 2011 nicht auf dem Tahrirplatz war“, bekannte Shehab. Doch auch am Computer in der heimischen Komfortzone hielt sie nichts. Die Proteste unterstützte sie aus ihrem eigenen Tätigkeitsfeld heraus: Sie sprühte Slogans an Kairos Häuserwände.
Ähnliche Erfahrungen hat auch Lena Prents im autokratisch regierten Weißrussland gemacht. Dort schaffen Internetplattformen wie Art Aktivist oder Galerien neue Handlungsräume. „Man kann über die Kunst viele politische Themen ansprechen, die tabuisiert sind“, sagte Prents. Nicht zuletzt bei den arabischen Aufständen war so die Kunst ein entscheidender Faktor. Unzählige Videos und Musikclips, selbst produziert, weitergeleitet und verlinkt, Satiren, Cartoons und Konzerte knüpften fragile Netzwerke zwischen Menschen und brachten sie zum Sprechen. Und obwohl Shehab angesichts des Wiedererstarkens der Muslimbrüder nicht daran glaubt, dass die Protestierenden in Ägypten selbst die Früchte des Aufstandes ernten werden, setzt sie alle Hoffnung in die Vernetzung: „Wenn sich eine ganze Nation im Play-Modus befindet – was kann da schiefgehen?“
Wolfgang Kraushaar zeigte sich da skeptischer: „Es gibt ein erhebliches Maß an Erfahrungslosigkeit bei der Nutzung dieser neuen Möglichkeiten“, sagte er. Trotzdem hätten die Proteste in den arabischen Ländern und die im Netz zirkulierenden Videos und Berichte in Europa neue Debatten ausgelöst, ganz konkret die Occupy-Wall-Street- und Occupy-Bewegung befeuert.
Grüße aus Stuttgart
Trotz der durch das Internet genährten Vergleiche der Protestbewegungen, um die sich vor allem die Europäer bemühen – man denke nur an den schrägen Slogan „Stuttgart 21 grüßt den Tahrirplatz“ –, bleiben aber die Unterschiede. In Ägypten habe sie Jugendliche gesehen, die erschossen, gejagt und misshandelt wurden, sagte Shehab. Die Proteste waren lebensgefährlich, denn: „Man kann keine Erlaubnis für eine Revolution beantragen.“ Die Hauptdifferenz sah sie indes in den realen Netzwerken. Während die Protestierenden vom Tahrirplatz mit Decken, Geld oder ärztlicher Versorgung unterstützt wurden, blieben die Occupy-Demonstranten unter sich. „Sie starteten mit einem großen Ziel und keiner sozialen Unterstützung“, so Shehab.
Die Veränderung der hiesigen Protestkultur zeigte Florian Kessler am Beispiel Stuttgart 21. Niemand habe verstanden, wie in dieser wohlhabenden Stadt ein Bahnhofsumbau für solche Wut sorgen konnte. Der Protest: diffus, fluide, ohne Trägerschicht oder Adressat. „Das muss man erstmal aushalten können“, sagte Kessler. In diesem Moment fuhr laut trillernd ein winziger Fahrradkonvoi über den Pariser Platz, eskortiert von Polizeiwagen. Wofür oder wogegen hier demonstriert wurde? Es war nicht herauszufinden. SONJA VOGEL