: Die alte Dame Saint-Denis
SLAM POET Grand Corps Malade stammt aus einer Pariser Vorstadt. Seine Mischung aus Hiphop und Slam Poetry kam zuhause in die Charts. Am Dienstag stand der Poet mit der Krücke auf der Bühne des Admiralspalasts
VON LUKAS DUBRO
Fabien Marsaud trägt eine Krücke und kommt aus dem Pariser Vorort Saint-Denis. In Frankreich sind das gleich zwei Handicaps. Bei Marsaud sind seine Behinderung und seine Herkunft jedoch Markenzeichen und Gegenstand seiner Poesie.
Am Dienstag trat der französische Slam Poet, der sich Grand Corps Malade nennt, im Admiralspalast auf, um dort seine Kombination aus Slam-Poesie und Hiphop vorzutragen. Unterstützung erhielt Marsaud dabei von Bas Böttcher. Der Bremer zählt zu den wichtigsten Poetry-Slammern Deutschlands, was er auch an diesem Abend eindrucksvoll bewies. Das gilt umso mehr für seinen französischen Kollegen, der er es 2006 schaffte, mit seiner Mischung aus Poesie und Musik 600.000 Exemplare seines ersten Albums „Midi 20“ zu verkaufen und über Nacht zum Popstar zu werden. Wenn er auftritt, fällt seine Krücke nicht weiter auf. Locker wippt der Künstler im Takt zum Rhythmus seiner Band, während er seine Texte rezitiert.
Am 16. Juli 1997 war Marsaud in ein zu flaches Schwimmbecken gesprungen. Seine Rückenwirbel verschoben sich, und es war zu befürchten, dass er nicht wieder laufen können würde. Eine erfolgreich verlaufene Reha rettete ihn vor dem Rollstuhl. Ohne diesen Unfall wäre der knapp zwei Meter große Franzose jetzt wahrscheinlich Sportlehrer und würde immer noch leidenschaftlich Basketball spielen.
Das Wort und der Rhythmus
Stattdessen jongliert Marsaud heute mit Worten. Und das sehr gekonnt. Mit einer tiefen Stimme rappt er seine Texte und spielt dabei überzeugend mit Dynamik und Geschwindigkeit. In den besten Momenten verschmelzen seine Worte mit den eleganten Rhythmen seines Drummers. Der Rest der Musik passt zur Performance, fällt aber auch nicht weiter durch irgendwelche Finessen auf.
Über den Stil dieser Kombination aus Wort und Text entschied ein weiterer Zufall: ein Barbesuch in Paris-Clichy 2003, wo er an einem Poetry Slam teilnimmt und sofort begeistert ist. Seit 1998 verbreitet sich der in Chicago von Marc Smith erfundene literarische Vortragswettbewerb in Frankreich, befördert durch den Film „Slam“ des französischen Filmemachers Marc Levin. In Frankreich meint das Wort „Slam“ schlicht Textvortrag, während der Begriff in Deutschland eher für den Wettbewerb steht.
Diese unterschiedliche Auffassung von Slam zeigte sich auch im Admiralspalast. Die Regeln des amerikanischen Slam spielten an diesem Abend keine Rolle. Jeweils eine knappe Stunde statt der sonst üblichen drei Minuten standen die beiden Künstler auf der Bühne. Es ging eher um den Vortrag als um den Wettstreit. Es handelte sich um ein Konzert und nicht um einen Slam im klassischen Sinn. Etwas befremdlich wirkten daher die Ansagen des Moderators Martin Jankowski, der die einzelnen „Runden“ einleitete und immer wieder auf Poetry Slam Bezug nahm.
Als Marsaud 2003 den Künstlernamen Grand Corps Malade – „Großer kranker Körper“ – als Anspielung auf seinen Unfall und seine Körpergröße annahm, war Poetry Slam in Frankreich noch nicht so verbreitet. Umso bemerkenswerter ist Marsauds schnelle Karriere. Nach seinem großen Erfolg „Midi 20“ veröffentlichte er 2008 das Album „Enfant de la Ville“. Die Texte seiner beiden Alben drehen sich vor allem um seinen Geburtsort. „On peut pas vraiment dire qu’on choisit son lieu de naissance“ – die Textzeile stammt aus dem Lied „Je viens de là“. Das heißt sinngemäß übersetzt, dass man sich nicht aussuchen kann, wo man geboren wird. Marsauds Geburtsort ist Saint-Denis, das in Frankreich nicht nur als eine der vielen Vorstädte von Paris bekannt ist. Der Stadtteil ist während der Unruhen von 1995 nach dem Polizeimord an Makomé Bowole ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Saint-Denis ist auch der Ort, aus dem Fußballspieler wie Sylvain Wiltord oder Alou Diarra stammen. „Die Medien verbreiten ein einseitiges Bild über meine Stadt. Dass du es dort nur als Rapper oder Fußballer zu etwas bringen kannst“, ärgert sich Marsaud.
Die Stadt hat ihn Solidarität gelehrt
Saint-Denis ist mehr als der triste Alltag voller Gewalt, der in dem Film „La Haine“ gezeigt wird, sagt Marsaud. Für ihn ist die Stadt Teil seiner Identität. „Hier bin ich aufgewachsen, ich habe hier Freunde und Familie.“ Die Stadt habe ihn bereichert, ihn gelehrt, was Solidarität sei. Die Koexistenz vieler Menschen und Kulturen habe seinen Horizont erweitert. So singt er: „Si t’aimes voyager, prends le tramway et va au marché. En une heure, tu traverseras Alger et Tanger.“ Marsaud nennt die Stadt gern „alte Dame“. Sie ist wie seine Krücke, eher Stütze als Hindernis.