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Archiv-Artikel

Schwarzgelb will entfesseln

Weil in NRW mehr als 30.000 Menschen jährlich zwangsweise in der Psychiatrie landen, will Gesundheitsminister Laumann kurzfristige Angebote ausbauen. „Falsches Mittel“, sagen Betroffene

von MIRIAM BUNJES

NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) will dafür sorgen, dass künftig weniger Menschen in Psychiatrien zwangseingewiesen werden. „Eine erzwungene Einweisung ist ein erheblicher Eingriff in die Freiheitsrechte eines Menschen. Deshalb muss sie die absolute Ausnahme bleiben“, sagte Laumann gestern bei der Vorstellung einer aktuellen Studie der Universität Siegen.

Danach werden jährlich rund 20.000 Menschen in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Und bei dieser Zahl sind die von den Forschern miteinbezogenen Einweisungen nach Betreuungsrecht sogar noch herausgekürzt. Die ehemalige Landesregierung bezifferte im vergangenen Jahr die Zahl der Einweisungen auf 30.487 und meinte damit sowohl Einweisungen nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz als auch nach dem Betreuungsrecht.

Doch auch die niedrigeren Zahlen der Studie alarmieren. „Es besteht dringender Handlungsbedarf“ kommentierte Laumann die neuen Erkenntnisse. Er forderte die Kommunen auf, ihr Hilfesystem auf mögliche Schwachstellen zu untersuchen. Die Krisenintervention, also kurzfristige therapeutische Angebote sollten weiterentwickelt werden, sagte Laumann. „Beispielsweise durch Anlaufstellen, die rund um die Uhr erreichbar sind.“

Die Zahl der Einweisungen stieg besonders bei Alten, Alleinstehenden und Wohnungslosen, ergab die Studie. Zur Zeit stagniere sie „auf hohem Niveau“. Untersucht wurden Köln, Münster und die Kreise Olpe und Viersen.

Nach dem NRW-Psychisch-Kranken-Gesetz wird in die Psychiatrie zwangseingewiesen, wer sich selbst und andere erheblich gefährdet. Nach Betreuungsrecht reicht dafür schon eine vage Gefährdung des „Wohls“. „Offenbar sind Großstädter auch gefährdeter als Menschen auf dem Land“, sagte der Siegener Sozialmediziner und Mitautor der Studie, Michael Regus, der taz. „Sie werden jedenfalls deutlich häufiger eingewiesen.“

Möglicherweise sei dies aber auch ein Indiz dafür, dass Krisen in ländlicheren Regionen häufiger in der Familie gelöst werden. Die Forscher beobachteten zudem, dass es in den Städten, in denen die hohen Zahlen veröffentlicht und kritisiert werden, kurzfristig weniger Zwangseinweisungen gab. „Transparenz dämmt offenbar die Weisungsflut“, so Regus. „Das zeigt, dass Zwangseinweisungen nicht ausschließlich medizinische Gründe haben.“

In Nordrhein-Westfalen ist die Einweisungspraxis sehr unterschiedlich: Während es in Dortmund im vergangenen Jahr 1.200 Einweisung allein nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz gab, waren es in Herne nur 64 – betreuungsrechtliche Einweisungen inklusive. Die dortige Psychiatrie hat sich nämlich die Gewaltfreiheit auf die Fahnen geschrieben: Es gibt keine geschlossenen Stationen und keine Zwangsmedikation.

„Die Gewalt liegt in den Gesetzen“, sagt Matthias Seibt vom Landesverband Psychiatrie-Erfahrener. „Das Betreuungsrecht ist so schwammig, dass quasi jeder eingewiesen werden kann.“ Er hält die Zahl der unfreiwilligen Psychiatrieinsassen für wesentlich höher, da viele aus Angst vor einer Zwangseinweisung Freiwilligkeitserklärungen unterschrieben. „Laumanns Mittel ändert daran nichts.“