Anderssein ist kein Menschenrecht

LEBENSBERICHT Eine Jagd nach Identität und Glück und ihre Konsequenzen: Der autobiografische Roman „Warum glücklich statt einfach nur normal?“ der feministischen britischen Schriftstellerin Jeanette Winterson

Wintersons Roman fügt sich in eine Gesellschaft, die Kindern das Recht auf Herkunft gesetzlich einräumt

VON DENISE ROTHMAIR

Wer es wagt, sich auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit zu machen, stößt unweigerlich lang verschlossene Türen auf, hinter denen verloren geglaubte Gefühlswelten schlummern – viele Jahre verdrängt und weggesperrt. Die Tage der Kindheit erwachen zum Leben, ebenso wie die bittere Erkenntnis, dass nichts mehr, obgleich man zu verzeihen bereit wäre, zu ändern ist. Dass nichts mehr am Geschehenen zu ändern ist, weiß auch Jeanette Winterson. Ihr autobiografischer Roman „Warum glücklich statt einfach nur normal?“ lehrt uns, dass Zeit nicht alle Wunden – insbesondere nicht die der Kindheit – heilt.

Nach ihrem halbfiktiven Debütroman „Orangen sind nicht die einzige Frucht“ von 1985, der ihre Kindheit als Adoptivtochter eines Arbeiterpaares aufarbeitet und sie als 25-Jährige über Nacht berühmt machte, geht die britische Autorin nun einen Schritt weiter. Die Erzähllinien der beiden Romane kreuzen sich zwar immer wieder an den Orten der der tragischen Kindheit im Norden Englands der 50er Jahre, so erzählt Winterson nun aber ihre Geschichte fragmentarisch von ihrer Adoption als Kleinkind bis in die Gegenwart. Winterson, heute 53 Jahre alt, stellt sich dem Dämon ihrer Adoptivmutter – wie auch schon in ihrem ersten Buch. Doch jetzt setzt sich der zermürbende Kampf um Identitätsbildung und um Selbstbestimmtheit fort.

Gefühl und Sprache

Mit viel Gefühl, Witz und einer bemerkenswert poetischen Sprache formuliert sie Fragen nach dem Leben und der Liebe, wie sie eigentlich nur Kinder stellen können und kein Erwachsener zu beantworten vermag. Ihr Roman erzählt von der Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, von der Rohheit des Lebens in Manchester, zahllosen Erniedrigungen, dem Streben nach Glück und vom Tod. „Ich zwinge mich zur kompromisslosen Ehrlichkeit“, schreibt sie über jenen Moment nach einem Nervenzusammenbruch, als sie regungslos auf dem Boden ihres Hauses liegt und wieder zu sich kommt: in ihren eigenen Exkrementen, tränenüberströmt, am Ende ihrer Kräfte.

So dicht an der Person, lässt man sich im Dunstkreis dieser Intimität fast dazu hinreißen zu glauben, man selbst sei der einzige Mensch auf der Welt, der diese Geschichte nun kennt. Die Linie zwischen Fiktion und Realität löst sie dennoch bewusst auf – zumal sie über die natürlichen Grenzen ihrer Geschichte hinausgeht, einen offenen Rahmen schafft, in dem sie sich wie ein Schatten hin und her bewegt, ohne sich festzulegen, ohne sich von der eigenen Geschichte einsperren zu lassen. Nicht so wie damals, als sie von ihrer herrischen Mutter, „die sich Leid wie eine zweite Haut anhaftete“, stundenlang im dunklen Kohlekeller weggesperrte wurde, die sie nächtelang im Freien auf der Treppe sitzen ließ, die ihre Bücher verbrannte und ihr damit das Einzige nahm, was ihr Freiheit versprach.

Nach Freiheit strebt Jeanette Winterson ihr ganzes Leben, sucht nach Identität ausgelöst vom Trauma der Adoption, immer konkurrierend mit dem Wunsch, geliebt und vor allem gewollt zu werden. Die Entscheidung, die diesem Spannungsfeld abgerungen ist, als Erwachsene die leibliche Mutter finden zu wollen, führt Winterson immer näher an ihren seelischen Abgrund heran; hinter dem die kaum zu ertragende Zerrissenheit zu einem Meer zerfließt.

Winterson versucht sich aus den Ketten der überstarken Mutter zu befreien. Sie schafft es an die Oxford University, bricht den Kontakt zu den Eltern fast gänzlich ab. Wenig später erscheint ihr Debütroman. Je mehr sie abschließen will mit dem absurden Schrecken der Vergangenheit, desto öfter stolpert sie über die unüberwindbare Hürde der Absolution: ein lebenslanger Prozess, der sie selbst letztendlich zur Schuldigen machen wird. Gleich zu Beginn erfahren wir, dass die Mutter sie zur Missionarin auserkoren hatte. Man spürt gleich, worauf sich das alles unaufhaltsam zubewegt. Die Gelegenheit, der Mutter zu verzeihen, wird sie nicht mehr haben.

Wintersons Weg ist zwar einsam, aber von Marksteinen gesäumt: Es sind die Autoren von A bis Z der englischsprachigen Literatur, die im Roman kontinuierlich auftauchen und zum Synonym ihrer Persönlichkeitsentwicklung werden. Ihre Erinnerungsfetzen gleiten immer wieder von der Gegenwart in die Vergangenheit, in ihre Heimatstadt Accrington, die in ihrer Tristesse, gehalten von starren Strukturen der streng gläubigen „Elim Church“-Gemeinde, wenig Platz für ein fantasievolles Kind bot. Weil sie sich das Lesbischsein trotz Exorzistengruppe nicht austreiben lassen will, wird Jeanette vor die Tür gesetzt, lebt monatelang im Auto und sitzt tagsüber in der Bibliothek. Sie war nie bereit, sich für Liebe zu Frauen zu schämen.

Winterson gelingt es, ihr Trauma vor sich aufzufächern, und sie lässt dabei kleine vom Glück angestrahlte Facetten heraus blitzen. Denn unter den dunklen, aus den Fabrikschornsteinen quellenden Rauchschwaden verbirgt sich eine Spielwiese für meisterhaft dargestellte skurrile Gestalten: eine Frau, die ihr Leben lang nichts anderes trägt als einen Mantel, der ihr dann vom Leib geschnitten werden muss, als sie stirbt; die Großmutter, mit der Jeanette Marmeladebrote isst (auch noch als sie schon tot im Bett liegt) und ein opernverliebter Streuner, der an der Straßenecke Lyrik verkauft. Jeanette Winterson lernt aber schnell, dass in dieser Welt anders sein kein Menschenrecht ist, dass ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit nur mithilfe der Literatur zu stillen ist. „Ich fühlte mich weniger isoliert. Ich trieb nicht mehr auf meinem kleinen Floß durch die Gegenwart; es gab Brücken, die auf festen Grund führten. Ja, die Vergangenheit ist ein anderes Land, aber ein Land, das wir besuchen können, und sind wir einmal da, können wir die Dinge, die wir benötigen, daraus mitnehmen.“

Aufgebrochene Konvention

Sie war auf der Suche: Wie umgehen mit dem Etikett schlecht, das ihr die monströse Mutter verlieh? Lieber irgendeine Identität als gar keine? Warum ist das Maß der Liebe der Verlust? Dabei in der Vergangenheit nach Antworten zu suchen, erscheint ihr ebenso hilfreich, wie unablässig an sich zu zweifeln. Jeanette Winterson hat einen erfrischend zeitgenössischen Roman geschrieben, der feministische Konventionen aufbricht und die Ambivalenz zwischen selbstbestimmtem Handeln und der eigenen Opferrolle – die abzustreifen man vielleicht nie bereit war – schonungslos aufzeigt. Die anfängliche Schwierigkeit, sich in der Geschichte zurechtzufinden, mag mit der latenten Orientierungslosigkeit, die Winterson im Leben antreibt, zu erklären sein.

Dennoch fügt sich dieses Buch problemlos in eine Zeit und in eine Gesellschaft, die nun Kindern das Recht auf Herkunft und damit, womöglich die Wurzeln der eigenen Persönlichkeit zu entdecken, gesetzlich einräumt. Winterson fragt dabei provokant nach den Konsequenzen dieser Suche, und wie und vor allem unter welchen Umständen Identität gebildet wird. Sie lässt die klärende Antwort darauf zwar aus, dekonstruiert aber dafür vor unseren Augen die Illusion von Zufriedenheit, die sich nie einstellen will, auf der ewigen, jeden Menschen erfassenden Suche nach dem eigenen Ich.

■ Jeanette Winterson: „Warum glücklich statt einfach nur normal?“ Aus dem Englischen von Monika Schmalz. Hanser Verlag Berlin, 2013, 256 Seiten, 18,90 Euro