: Ohne Prozess im Lager
PROTEST 92 Gefangene verweigern das Essen, 17 werden zwangsernährt, 3 sind bereits im Krankenhaus. Viele der Häftlinge im US-Hochsicherheitsgefängnis Guantánamo sind seit über elf Jahren eingesperrt
NEW YORK taz | Zwei Wochen nachdem das US-Militär mit Gummigeschossen gegen Hungerstreikende in Guantánamo vorgegangen ist und sie mit Isolationshaft bestraft hat, haben sich die Proteste ausgeweitet. Selbst Samuel House, Sprecher der Lagerleitung, gibt nun zu, dass 92 Gefangene im Hungerstreik sind – mehr als doppelt so viele wie Mitte des Monats –, dass 17 Männer zwangsernährt werden und dass 3 von ihnen im Krankenhaus sind. Am Mittwoch bestätigte das US-Militär auch, dass ein 48-jähriger Hungerstreikender in Guantánamo, Adel bin Ahmed bin Ibrahim Hakimi aus Tunesien, bereits Mitte März versucht hat, sich das Leben zu nehmen.
Unterdessen setzen Menschenrechtler in den USA ihre Straßenaktionen fort, um auf die kommende Katastrophe in dem Lager hinzuweisen. Sie verlangen von Präsident Barack Obama, dass er jemanden auf die seit Monaten verwaiste Stelle setzen soll, die sich um die Schließung von Guantánamo kümmert, und dass er jene Gefangene in Guantánamo, die nicht angeklagt und vor Gericht gestellt werden sollen, entlässt.
Festnahmen bei Die-in
Am Montag sind zwölf Demonstranten bei einem „Die-in“ vor dem Bundesgericht in New York festgenommen worden. Mehrere trugen orangefarbene Overalls und schwarze Kapuzen über Kopf und Gesicht und hatten sich Schilder mit den Namen von in den vergangenen Jahren im Lager gestorbenen Gefangenen um den Hals gehängt. „Ich starb wartend, Mana al-Tabi“, stand auf einem Schild, das die Gruppe „Witness against Torture“ auf ihrer Webseite zeigt.
Vier Jahre, drei Monate und fünf Tage nachdem Barack Obama versprochen hat, Guantánamo „binnen einem Jahr“ zu schließen, erlebt das Lager die schwersten Proteste seit langer Zeit und sind die – noch unter Ex-Präsident George W. Bush eingeführten – gemeinsam genutzten Räume für Gefangene wieder geschlossen worden. Dennoch sollen im Camp fast alle Gefangenen an der Aktion beteiligt sein. Ob sich auch die „Stars“ unter ihnen – darunter der wegen der Attentate vom 11. September 2001 angeklagte Chalid Scheich Mohammed – an dem Hungerstreik beteiligen, ist nicht bekannt. Sie sitzen in Guantánamo in einem abgetrennten Hochsicherheitstrakt.
Carol Rosenberg von der US-amerikanischen Tageszeitung Miami Herald, die Guantánamo seit Jahren regelmäßig besucht, berichtete schon vor Wochen von einem aufständischen Klima im Lager – von Gefangenen, die Kartons über Überwachungskameras gestülpt und Weisungen des Wachpersonals ignoriert haben.
Gegenüber Anwälten begründen die Hungerstreikenden ihren Protest mit einer Beschlagnahme von Koranen. Doch jenseits dieses konkreten Auslösers Anfang Februar machen Beobachter vor allem die ausweglose Lage der 166 Gefangenen in Guantánamo verantwortlich: ihre de facto unbefristete Gefangenschaft. Die meisten Männer sind seit mehr als elf Jahren in dem Lager, haben ebenso lange keine Angehörigen mehr gesehen und haben weder eine Anklage noch einen Prozess bekommen. 86 von ihnen haben schon vor Jahren eine „Freigabe“ für den Transfer in ihre Herkunftsländer erhalten. Doch der US-Kongress hat verhindert, dass sie in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Besonders betroffen sind Jemeniten, die größte Gruppe in Guantánamo. Aber auch der in Saudi-Arabien geborene britische Staatsangehörige Shaker Aamer steckt trotz seiner „Freigabe“ seit Jahren in Guantánamo fest. Offiziell ist die britische Regierung bereit, ihn aufzunehmen. Doch die US-Behörden wollen ihn nur nach Saudi-Arabien – und nirgendwohin sonst – expedieren.
Die Lagerverwaltung scheint sich auf einen lang anhaltenden Konflikt einzustellen. Mitte April – vor Beginn der Verlegung in Einzelzellen – hat sie 40 zusätzliche Ärzte und Krankenpfleger beim Pentagon angefordert und erklärt, sie habe genügend Portionen „Ensure“, das zur Zwangsernährung eingesetzt wird, auf Vorrat. Auf der anderen Seite lehnen Ärzte und unabhängige Gruppen wie das Rote Kreuz und Physicians for Human Rights Zwangsernährung ab. Die Maßnahme verstoße gegen die medizinische Ethik. DOROTHEA HAHN