: Wo sind die lila Gummibärchen?
FOOD-DESIGN Eine Ausstellung in Hannover versucht zu erklären, warum Lebensmittel so aussehen, wie sie aussehen. Daran arbeiten aus verschiedenen Fachrichtungen zusammengesetzte Teams zum Teil über mehrere Jahre
VON JOACHIM GÖRES
„Achtung: Die Lebensmittel sind behandelt und daher nicht zum Verzehr geeignet.“ Eine Hinweistafel, die in einem Museum eher selten zu finden ist. In diesem Fall hat sie durchaus ihre Berechtigung: Im Museum August Kestner in Hannover gibt es derzeit zwei Ausstellungsräume voll mit Süßigkeiten wie Gummibärchen, Torte und Schokolade, aber auch salzigen Knabbereien, Wurst oder Brötchen. Manch hungrigem Besucher könnte beim Anblick der mit Scheinwerferlicht besonders in Szene gesetzten Ausstellungsstücke möglicherweise das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Da liegt auf einem der üppig gedeckten Tische die Leberwurst neben Marshmallows, der Schinken neben Gummibärchen, das Brötchen neben Keksen. Alles ist nach Farben angeordnet, vor allem Rot ist stark vertreten. „Besonders gerne greifen wir zu rot und orange“, heißt es im Ausstellungstext – Farben, die an reife Kirschen oder Himbeeren erinnern und deswegen einen süßen Geschmack versprechen. In Tüten mit Gummibärchen sind deshalb doppelt so viele rote wie grüne oder gelbe Exemplare.
Warum gibt es keine violetten Bärchen? Der Mensch liebt natürliche Farbtöne, vor dem Verzehr dunkler und unnatürlich intensiver Farbmischungen schreckt er dagegen instinktiv zurück – dahinter steckt die Angst, vergiftet werden zu können, so die Erklärung.
„Food Design“ ist der Titel der Ausstellung, die sich damit beschäftigt, warum Lebensmittel so aussehen, wie sie aussehen. Dabei geht es neben der Farbe auch um die Form, den Geruch, den Klang beim Reinbeißen. Wie fühlt sich ein Lebensmittel im Mund an – für die Bremer Wahrnehmungspsychologin Gisela Gniech ist diese Frage für den Verkaufserfolg wichtiger als der Geschmack. Ein knackiger Cracker klingt frischer als ein geräuscharmer – nicht nur das Auge, sondern auch das Ohr ist mit.
Der Sounddesigner Friedrich Blutner testet Essgeräusche und gibt Hinweise, wie sie „optimiert“ werden können – im Sinne der Auftraggeber. Wenn das Bier beim Trinken aus der Flasche nicht so wie gewünscht gluckert, dann muss der Flaschenhals möglicherweise verändert werden. Klanggeräusche beim Essen können zum Beispiel durch längere Backzeiten bei einer niedrigeren Temperatur oder durch die Zugabe von mehr oder weniger Zucker verändert werden. Selber testen kann der Besucher dies in der Ausstellung leider nicht.
Dafür gibt es diverse Hör- und Geruchsstationen. Mit den Händen kann man in einen großen Bottich voller Popcorn greifen. Schautafeln informieren darüber, wie bestimmte Lebensmittel ihre bis heute typische Form bekamen. Den Zuckerwürfel etwa gibt es seit 1843 – mit der Zeit lief er den unpraktischen großen Zuckerhüten den Rang ab. 1911 kam der erste Schmelzkäse in Dreieckform auf den Markt, damals bewusst gewählt wegen der Ähnlichkeit zu einem Tortenstück. Die Doppelschlinge in der Mitte bei Brezeln symbolisiert gekreuzte Arme vor der Brust, einst eine typische Bethaltung. Für Theodor Tobler stand bei der Erfindung der dreieckigen Toblerone möglicherweise das Matterhorn Pate. Entscheidender für diese besondere Form der Schokolade dürfte aber gewesen sein, dass sie sich sichtbar von anderen Sorten abhebt – und dass das neue Produkt platzsparend transportiert und im Laden präsentiert werden kann.
Heute wird nichts dem Zufall überlassen. Lebensmitteltechniker, Ernährungswissenschaftler, Marketingexperten, Betriebswirte, Psychologen und Akustiker bestimmen über das Aussehen eines neuen Produktes. Bei der Weltmarke Uncle Ben’s dauert die Entwicklung 18 bis 24 Monate. Der Erfolg erscheint angesichts dieses langen Zeitraums, der geballten Expertenschar und zahlreicher Testphasen am lebenden Konsumenten bescheiden: So bringt der japanische Lebensmittelhersteller Nissin, Erfinder von Instant-Nudelgerichten, pro Jahr 300 neue Produkte in die Ladenregale – nur zwei bis drei überleben länger als einen Winter.
Eine vom Design-Forum Wien konzipierte Präsentation, die alle Sinne anspricht und auch Kindern Spaß machen kann, die nicht gern ins Museum gehen. Allerdings sollte man nicht alle Aussagen unbesehen übernehmen. Zum Beispiel heißt es: „Die Steigerung des sinnlichen Genusses ist eine Antriebsfeder von Food Design.“ Es dürfte wohl eher um die Steigerung des Gewinns gehen.
Museum August Kestner, bis 4. August. Di–So 11–18 Uhr, Mi 11–20 Uhr, Fr Eintritt frei, Trammplatz 3. Zur Ausstellung gibt es zahlreiche Veranstaltungen, unter anderem eine Führung für Kinder mit Kostproben am 13. Juni und einen Rundgang für Familien mit Workshop am 9. Juni. Für Kindergartengruppen und Schulklassen werden eine einstündige Führung beziehungsweise eine Führung plus Workshop angeboten, bei dem Kinder ab fünf Jahren neue Nahrungsmittel aus bekannten Zutaten designen und essen können. Anmeldungen unter 0511/16 84 56 77 oder an pia.drake@hannover-stadt.de.